Weiße Nächte, weites Land
es noch nicht zu spät war, Helmine auf den rechten Weg zu begleiten.
Aber es war nicht nur ihre Tochter, die sie beunruhigte. Sie fragte sich auch, was in Bernhard vorging, so ein stattlicher, beeindruckender junger Mann, tüchtig, zäh und klug.
Warum hatte er sich bisher noch an keine Frau gebunden?
Marliese bemerkte die Blicke der jungen Weiber, den koketten Augenaufschlag, den ihm manche hoffnungsfroh zuwarf, aber ihr Sohn reagierte wie ein störrisches Maultier.
Mochte er am Ende keine Frauen?, fragte sich Marliese. Hatte er möglicherweise von einem Leben im Kloster geträumt? Hier im Treck sah sie ihn oft mit dem verstockt wirkenden Knecht Matthias, mit diesem leichtfertigen Zeugmacher aus Berlin, und die Brandnarben-Anja hielt sich meist nicht weit entfernt auf. Sie hörte die jungen Leute miteinander plaudern und lachen, aber das konnte es doch nicht sein, was sich ein kräftiger junger Mann wie ihr Bernhard erträumte?
Marliese beobachtete manchmal wehmütig die Paare in ihrer Umgebung. Besonders anrührend empfand sie das Ehepaar Mai, Adam und Veronica, die sich so um ihr Töchterchen sorgten. Es erinnerte sie daran, wie sie vor vielen, vielen Jahren – oder war es in einem anderen Leben? – selbst ihre Kinder umhätschelt hatte.
Wie hatte am Ende nur alles so falsch laufen können? Ihr Magen rebellierte, wenn sie in ihrer Gedankenreise an den Punkt kam, wo sie ihrem Mann Johann die Mistgabel in den Leib gerammt hatte.
Sie versuchte, das Bild aus ihrer Erinnerung zu bannen, den Geruch nach Blut, das letzte Ausatmen, aber es kehrte immer wieder zurück und ließ sie taumeln.
Unmöglich, dass der Herrgott ihr diese Sünde vergab. Irgendwann würde die gerechte Strafe für die Bluttat auf sie niederprasseln.
Sie hoffte, dass all die Paare, die sich kurz vor dem Abmarsch das Jawort gegeben hatten, einen freudvolleren Lebensweg beschreiten würden.
Matthias und Christina, die Nachwuchs erwarteten … Ein Lächeln trat in Marlieses Züge, während sie sich neben Alfons aufs Schiffsdeck setzte und begann, Stücke von dem krossen weißen Fladenbrot abzureißen, die sie ihrem Sohn reichte. Christina wirkte trotz ihres Melonenbauchs mit ihrer grimmigen Miene zwar keineswegs wie eine werdende Mutter, die sich auf das Kind freute, aber vielleicht verlief die Schwangerschaft beschwerlich, und die Greuel der Reise taten ihr Übriges.
Und Anja und Franz … Marliese hob den Kopf, als sie die Apothekerstochter sah, wie sie gerade die kleine Frieda auf den Arm nahm und das Ohr prüfend auf deren Brust legte. Franz und Anja erschienen Marliese eher angespannt und missmutig, aber auch bei ihnen konnte die üble Laune auf die Schrecknisse der vergangenen Wochen zurückzuführen sein. Sie würden bald gemeinsam die ersten Schritte auf ihrem eigenen Land gehen und Arm in Arm, Schulter an Schulter Pläne schmieden, stellte Marliese sich vor.
Das Schiff schaukelte in den leichten Wellen, als nun das letzte Beiboot eintraf. Ein junger Soldat half den Nachzüglern, an Bord zu gelangen, indem er ihnen die Hand reichte.
Daniel Meister machte ohne fremde Hilfe einen Satz auf die Planken. Sebastian eiferte ihm nach und stürzte dabei fast in den Fluss. Gerade noch konnte sich der Junge an der Reling festklammern, die Beine baumelten über der Bordwand. Daniel packte sein rechtes Handgelenk, der Soldat sein linkes. Mit Schwung hievten sie den Jungen an Bord, wo er auf den Planken schwer atmend alle viere von sich streckte. Daniel blickte kopfschüttelnd auf ihn herab, aber in seinem Gesicht blitzte ein Grinsen auf.
Marliese seufzte vor Erleichterung, weil in diesem Moment Helmine an Bord kletterte. Der junge Soldat packte sie statt an den Händen um die Taille und hob sie hoch. Sie lachte laut auf und ließ sich von ihm wie eine Puppe abstellen. Die Riemen eines bunt umnähten Leinensacks verliefen quer über ihre Brust. Schwer hing der Beutel an ihrer rechten Seite. Was mochte sie eingekauft haben? Und woher hatte sie das Geld? Ob ihr Bernhard einen Teil des Handgelds, das ihr zustand, ausbezahlt hatte?
Helmine drehte sich einmal suchend um die eigene Achse. Als sie ihre Mutter und Alfons entdeckte, kam sie in deren Richtung. Marliese winkte, Alfons duckte sich halb hinter seine Mutter, spähte lauernd über ihre Schulter.
»Was für eine herrliche Abwechslung«, rief Helmine ungewohnt redselig. Ihre Augen glommen, als sie sich ein weiteres Mal zu dem freundlichen Soldaten umdrehte, der sie an Bord gehoben
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