Weiße Nächte, weites Land
hatte.
Sie ging in die Hocke und griff in den Beutel. »Mutter, ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.« Sie senkte die Stimme.
Ein Geschenk? Wollte sie etwas gutmachen? Glitzerten ihre Augen in freudiger Erwartung?
Alles Blut wich aus Marlieses Gesicht, als sie sah, was ihre Tochter da langsam und mit sichtlichem Genuss aus dem Beutel zog. Sie hielt die Flasche Wodka am Hals und präsentierte sie auf der Handfläche wie etwas Kostbares, stellte sie dann neben Marlieses ausgestreckten Beinen achtsam auf die Holzplanken. »Na, was sagst du? Soll ich dir gleich einen Becher einschenken, hm? Du musst doch fast verdursten, oder?«
Marlieses Finger bebten. Als sie schluckte, brannte es in ihrer Kehle, als hätte sie Sand hervorgewürgt. Sie starrte auf die grüne Flasche, die den glasklaren Schnaps enthielt. Mit einem Lächeln auf den Lippen zog Helmine den Korken ab, hob die Flasche und roch an ihr. »Hm, wie das duftet …«
Alfons entschied auf die ihm eigene Art, dass hier etwas Besonderes geschah. Er klatschte in die Hände und rief: »Geschenk, Geschenk!«
Marliese fühlte sich wie betäubt, unfähig, Wut oder Gier, Hass oder Verachtung zu empfinden. Sie sah nur das Böse in den Augen der Tochter und roch den Wodka, als Helmine ihr die Flasche unter die Nase hielt.
Nur einen Wimpernschlag später hatte sie die Flasche gepackt und sie mit einer solchen Wucht von sich geschleudert, dass sich der Inhalt über den Boden und Helmine ergoss, bevor das Glas klirrend zerbrach. Tausend Scherben flogen in einem Wirbel herum, funkelten im Licht der Augustsonne.
Marliese verengte die Augen zu Schlitzen, beugte sich vor und umfasste das Handgelenk ihrer Tochter fest wie ein Schraubstock, so dass diese vor Schmerz das Gesicht verzerrte. »Tu das nie wieder, Helmine! Hörst du? Tu das nie wieder!«, zischte sie.
24. Kapitel
M eile um Meile spürte Christina, wie Matthias ihr entglitt. Nicht, dass sie ihm jemals nah gewesen wäre, beileibe nicht. Ein bitterer Zug hatte sich um ihren schönen Mund gelegt. Wenn sie sich den Handspiegel vorhielt, meinte sie, in das Gesicht einer um zehn Jahre älteren Frau zu blicken. Hatte sich da nicht eine Falte zwischen ihren Nasenflügeln und den Mundwinkeln gebildet? Wo war der Glanz in ihren Augen? Sie sah aus wie jemand, der hundert Jahre Schlaf brauchte, und genauso fühlte sie sich auch. Dazu noch diese runden Backen, die sie aufgedunsen wie eine Wasserleiche erscheinen ließen und die auf dieses verfluchte Kind zurückzuführen waren, das sich Tag für Tag breiter in ihr machte, als wollte es sie zum Zerplatzen bringen.
Christina verfolgten Alpträume, wie sie die Balance verlor und auf die Planken des Schiffes fiel, wobei ihr Bauch aufplatzte wie einer der zahllosen Kürbisse, die hier überall wuchsen und verkauft wurden. Rotes Fleisch quoll aus ihrem aufgerissenen Leib hervor. Es glitschte ihr aus den Händen, wenn sie es zu fassen versuchte, und besudelte sie vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Mehr als einmal war sie nachts schreiend und schweißgebadet aufgewacht. Die Erkenntnis, dass sie nur geträumt hatte, tröstete sie nicht.
Der kugelrunde Bauch spannte die Haut bis zum Äußersten und hinderte sie daran, eine bequeme Lage beim Schlafen zu finden, was ohnehin in der gedrängten Enge schwer möglich war. Manche Nachtstunde lag sie wach und starrte auf die moderigen Holzplanken über ihr, leer, erschöpft, verbittert.
Sie konnte nur hoffen, dass Matthias anständig genug war, sie zu schützen. Als eine von ihrem Mann unehrenhaft vertriebene Frau, die sich vor der Ehe mit einem anderen eingelassen hatte, hätte sie in Russland keinen leichteren Stand als in Deutschland. Christina bildete sich nicht ein, dass die Regeln menschlichen Miteinanders in diesen Längengraden anderen Gesetzen unterworfen waren. Sie hatte einen Fehler begangen – und ihr Schicksal lag nun in den Händen des Mannes, den sie geheiratet hatte, ohne ihn zu lieben.
Es war ein schwerer Gang für sie gewesen, im Juni, als sie im sechsten Monat schwanger war und begonnen hatte, die ersten Nähte aus ihrem Kleid auszulassen, damit ihr anschwellender Leib Platz fand. Sie war schmal gebaut, und das Kind entwickelte sich langsam, aber im sechsten Monat gab es keine Möglichkeit mehr, die Schwangerschaft zu verbergen. Bald würden es alle sehen. Bevor sich die Leute die Mäuler zerrissen und Matthias von anderen erfuhr, dass seine Frau schwanger ging, hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und eine
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