Weiße Nächte, weites Land
wie sich Veronica fühlen musste, aber niemand wusste das besser als Eleonora. Ohne ihr Kind verlöre ihr Leben seinen Sinn, und ihr war klar, dass Veronica ähnlich empfand wie sie. Wie sollte die junge Frau diesen Schicksalsschlag nur jemals überwinden?
»Aus dem Weg!«
Eleonoras Kopf fuhr hoch, als sie die barsche Stimme des Mannes vernahm, der die mitfühlenden Kolonisten um Veronica zur Seite drängte. Doch es war keiner der Soldaten, die abseits mit verschlossenen Gesichtern miteinander flüsterten.
Es war Adam, Friedas Vater.
»Gib mir mein Kind!«, fuhr er Anja an, die immer noch die Kleine hielt. Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er nach dem Leichnam.
Er bettete das Köpfchen in die Armbeuge und wiegte das Kind hin und her, als lebte es noch. Seine Züge entspannten sich, während er in das zarte Gesicht schaute und über die fahlen Wangen streichelte. »Psssst«, flüsterte er. »Pssst, mein Goldschatz, alles wird gut.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und trug das tote Kind unter Deck.
Schweigend starrten ihm die Waidbacher hinterher, keiner wagte zu sprechen, und die Stille hallte wider von den Schreien und dem Wimmern der trauernden Mutter, die ihr Bruder mit versteinerter Miene in den Armen hielt.
25. Kapitel
Oktober 1766, bei Saratow
K ein einziges Mal hatten die Schiffe im Hafen einer größeren Stadt angelegt. Vermutlich fürchteten die wachhabenden Soldaten, die Kontrolle über die Deutschen in dem Gewimmel zu verlieren. Auf der gesamten Wegstrecke hatten die Kolonisten nur die wenigen Dörfer, zu denen ihnen der Landgang erlaubt war, kennengelernt, und so fühlten sie sich, als sie Mitte Oktober Saratow erreichten, völlig erschlagen von der Betriebsamkeit der Wolga-Stadt.
Obwohl sich Christina genau wie alle anderen darüber freute, dass sie endgültig an Land gehen konnten, um die restliche Wegstrecke mit Pferden und Fuhrwerken zu bewältigen, seufzte sie, als sie neben Eleonora, Sophia und Klara über die Hafenanlage zu der Sammelstelle hinter den Getreidelagern marschierte.
Ein kühler Wind strich durch die Gassen und kräuselte das grauschwarze Wasser des Flusses. Die Luft war erfüllt von dem fauligen Geruch nach Unrat, der sich an den Ufern sammelte, und altem Fisch.
Nach und nach legten die Boote mit den anderen Kolonisten an und spuckten die Passagiere an Land, wo sie sich träge, mit gebeugten Rücken und schwerfälligen Bewegungen zu orientieren suchten.
Es gab kaum einen, den die Reise nicht an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht hatte. Die Gesichter wirkten greisengrau, die in Oranienbaum erstandenen Kleider und Kutten starrten vor Dreck, waren zerknittert, zerschlissen, löchrig.
Christina ächzte bei jedem Schritt leise und hielt sich den Rücken, den sie zu einem Hohlkreuz krümmte.
Schon einige Male hatte es den Anschein gehabt, als drängte das Kind nach draußen. Der Bauch hatte sich gespannt wie ein Trommelfell, während das Ziehen Christina die Luft abschnürte.
Die Schwestern hielten sich dicht aneinander, um sich im Gewühl der großen Stadt nicht zu verlieren.
Daniel erzählte ihnen, dass zu Saratow fast neunhundert Häuser gehörten und dass sich hier viele Deutsche niedergelassen hätten.
Für die Kolonisten wäre Saratow der Ort für die größeren Besorgungen und für alle amtlichen Gänge.
»Wie weit ist es noch bis zum Ziel?«, fragte Christina, träge vor Erschöpfung.
»Ich schätze, es sind noch zwei bis drei Tagesreisen, aber ich habe keine Ahnung, wie lange wir in Saratow bleiben.«
»Wir rasten?«, fragte Christina. »Wo sollen wir nächtigen?«
»Wir werden auf die Herbergen verteilt und bei – hoffentlich – gastfreundlichen Russen einquartiert.«
Nun stöhnte auch Eleonora auf. Klara begann wieder zu weinen.
»Grämt euch nicht!«, tröstete Daniel die Frauen. »Es ist bald geschafft. Die neue Heimat wird uns für alles entschädigen, was wir ertragen mussten.«
An der Sammelstelle trafen sie auf diejenigen, die kurz vor Kasan den Landweg genommen hatten. Sie hielten sich bereits seit mehreren Tagen in der Stadt auf und wirkten wesentlich erholter als die Schiffsreisenden.
Sie erfuhren, dass sie sich in zwei Tagen bei der deutschen Kanzlei zu melden hatten, die alle mit dem Koloniewesen befassten Geschäfte besorgte.
Präsident dieser Behörde war Grigorij Orlow, der eng mit der Zarin verbunden war. Viele Deutsche arbeiteten in den Amtstuben als Schreiber und Kopisten, aber ihnen zur Seite gestellt waren Russen,
Weitere Kostenlose Bücher