Weiße Nächte, weites Land
sein, oder?« Sie versuchte ein aufmunterndes Lächeln.
Aber Klara seufzte nur. »Ich will ein weiches Bett und einen Ofen, an dem ich meine Finger wärmen kann. Ich will an einem Tisch essen, und ich will über Felder laufen, so lange ich möchte.«
Eleonora lächelte wehmütig und streichelte der Schwester über die Wange. »Du wirst sehen, wir werden in schönen Häusern wohnen, und wir werden sie uns behaglich einrichten. Wir werden unser eigenes Land haben und Tiere, Klara. Pferde, Hühner, Kühe, Schweine …«
Klaras Augen leuchteten auf. »Wirklich? Werden wir nicht mehr weben?«
»Nur für uns selbst, wenn wir mögen. Aber du wirst sehen, in wenigen Monaten werden wir so viel Geld verdienen, dass wir es gar nicht mehr nötig haben, unsere Stoffe selbst zu weben. Wir werden uns feine Seide und makelloses Leinen in den buntesten Farben kaufen.«
Das Mädchen seufzte unterdrückt. »Ich kann es kaum noch erwarten.«
In dem Moment drang aus dem Schlafdeck ein Schrei, wie ihn weder Eleonora noch Klara jemals gehört hatten. Er kam aus tiefster Seele, aller Schmerz der Welt schien in ihm widerzuhallen. Eleonora drang der Ton unter die Haut, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie fuhr herum, genau wie Klara, und eilte zur Luke zum Schlafdeck. Auch die anderen an Bord waren aufgeschreckt.
In diesem Augenblick tauchte Veronica Mai in der Luke auf, den linken Arm fest um ihr Kind gelegt, während sie sich mit der Rechten nach oben zog. Sie stolperte, rappelte sich auf – ihr Gesicht eine ascheweiße Grimasse mit im Schrei verzerrtem Mund und weit aufgerissenen milchig blauen Augen. Wie von Sinnen ruckte ihr Kopf hin und her, während sie schrie und schrie und schließlich auf die Knie sank, das Gesicht gen Himmel gewandt. Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, Tränen nässten ihr Gesicht.
Alle umstanden sie wie gelähmt, schauten auf die Frau. Eleonora gewann als Erste ihre Fassung wieder. »Das Kind«, murmelte sie und kniete sich vor Veronica, um ihr Frieda aus den Armen zu nehmen. Ganz ruhig war das kleine Mädchen, ganz friedlich, obwohl die Mutter zum Steinerweichen schrie, und als Eleonora die Kleine mit leichter Gewalt aus der Umklammerung der Mutter zog, erkannte sie, dass Frieda tot war.
Eleonora gefror das Blut in den Adern, als sie das unbewegte Gesicht des Kindes sah, die Lider geschlossen, das Mündchen mit den blassrosa Lippen leicht geöffnet. Die ersten Zähne im Unterkiefer blitzten weiß hervor, weiß wie das ganze Gesicht. Die Hände waren kalt wie Schnee, und als Eleonora die Kleine unter den Armen packte, sackte der Kopf in den Nacken.
Die Umstehenden flüsterten, bekreuzigten sich, manche schneuzten sich die Nasen. Marliese hockte sich neben Veronica, die nun den Kopf auf die Schiffsplanken gelegt hatte und immer wieder mit der Stirn gegen das Holz stieß. Blut rann ihr übers Gesicht, verfärbte die strohblonden Haare an den Seiten.
Marliese versuchte Veronica festzuhalten, aber diese war zu stark und offenbar mit jeder Faser ihres Körpers von dem Wunsch besessen, der Tochter zu folgen.
Matthias, der aus dem Schlafdeck heraufkam, war mit zwei Schritten bei Veronica. Es bedurfte seiner ganzen Kraft, sie an seine Brust zu drücken, wo sein vor Dreck starrendes Hemd mit Blut und Tränen verschmiert wurde, bis das Schluchzen der untröstlichen Mutter in ein heiseres Wimmern überging. »Warum?«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. »Warum Frieda? Sie war doch genesen. Wir hätten es sicher bald geschafft.«
Auch Anja war inzwischen dazugekommen und nahm, nachdem sie sich versichert hatte, dass sich Matthias um Veronica kümmerte, Eleonora das tote Kind aus den Armen.
Anja tastete das leblose Mädchen mit gerunzelter Stirn ab und schaute ihm in den Mund. »Der monatelange Husten hat an ihr gezehrt, hat sie all ihrer Kräfte beraubt«, murmelte sie schließlich. »Es hat zwar so ausgesehen, als sei sie genesen, aber nach einer lebensgefährlichen Erkrankung genügt eine harmlose Erkältung, und der Körper kommt nicht mehr dagegen an. Es tut mir leid«, fügte sie hinzu und drückte den puppenleichten Leichnam an sich.
Klara weinte inzwischen hemmungslos, und als sich Sophia durch die Menschenmenge hindurchdrängelte, um auf dem Schoß der Mama zu kuscheln, drückte Eleonora sie so ungestüm an sich, dass die Dreijährige kurz aufschrie und ebenfalls zu weinen begann. Eleonora lockerte ihren Griff, küsste ihre Tochter aufs Haar. Jeder der Kolonisten konnte verstehen,
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