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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Aussprache herbeigeführt.
    Wie verfluchte sie diese undurchdringliche Art, die sie anfangs bei Matthias als geheimnisvoll gedeutet hatte. Auch bei diesem Gespräch bekam sie nicht die leiseste Ahnung von dem, was hinter seiner Stirn vorging. Sosehr sie auch bohrte und nachfragte, Matthias’ Miene blieb unbewegt. Er nickte nur, als sie ihm ihren Zustand beichtete, schien kurz blasser zu werden, aber seiner Stimme und seinen Worten war kein Unwillen anzumerken.
    »Weißt du, von wem es ist?«, fragte er nur.
    Christina gab sich angemessen entrüstet. »Selbstverständlich. Aber … es ist niemand, den du kennst.«
    Als Daniel Meister in diesem Moment vorbeigeschlendert war, hatte Matthias die Lippen geschürzt. »Wann kommt das Kind zur Welt?«
    »Im Oktober«, hatte sie schnell erwidert, seine Finger ergriffen und sie mit beiden Händen gedrückt. »Matthias, kann ich mich auf dich verlassen?« Ihre Stimme hatte so dünn, so flehentlich geklungen, dass sie Ekel vor sich selbst empfand. Was blieb ihr übrig, als auf Matthias’ guten Willen zu setzen?
    Matthias hatte ihr ins Gesicht geschaut, lange, viel zu lange für Christinas Ungeduld. »Lass das Kind erst einmal auf der Welt sein«, hatte er dann erwidert. »Wir werden sehen, wie sich alles fügt. Von mir aus spielen wir der Zarin zu Ehren die junge wachsende Familie, bis wir alle den richtigen Platz in unserem neuen Leben gefunden haben. Das erscheint mir in unserer jetzigen Situation das Vernünftigste.«
    In dem Moment wäre Christina ihm am liebsten um den Hals gefallen, aber sie spürte, dass selbst diese Art von Vertrautheit Matthias zu weit gegangen wäre. Deshalb nickte sie nur und senkte den Kopf. »Danke.«
    Alles, wirklich alles hatte ihr dieses Kind verdorben. Ihr Herz wurde schwer wie Blei, wenn ihr Nikolaj in den Sinn kam, wie er sie geküsst hatte, wie behütet und geborgen sie sich in dem weichen Bett gefühlt hatte. Je länger diese Reise ging, desto mehr wähnte sie sich in einem falschen Leben.
    Was tat sie hier? Was tat sie an der Seite dieses stocksteifen Knechts, das ungeliebte Kind im Leib, das unablässig strampelte und trat?
    Wenn es nur endlich vorbei wäre. Wenn sie nur endlich das Ungeborene aus sich herauspressen durfte, um sich wieder frei zu fühlen.
    Und dann?
    Christina biss sich auf die Unterlippe, bis sie warmes Blut schmeckte. Was sollte mit dem Balg geschehen? Vielleicht hatte sie Glück und es starb bei der Geburt. Ganz gegen ihre Gewohnheit schickte sie ein Gebet zum Himmel als Abbitte für ihre tiefsündigen Gedanken.
    Aber wäre es nicht tatsächlich das Beste für den Wurm in ihr, wenn er diese Welt, auf der es für ihn keine Liebe geben würde, niemals kennenlernte?

    Es hatte Eleonora weh getan, als sie in Sankt Petersburg erfuhr, dass ihre Schwester ein Kind unter dem Herzen trug. Die Vorstellung, wie sich Matthias und Christina liebten, wie sich sein Samen in sie ergoss, wie er stöhnend vor Lust auf ihr zusammensackte und sie seinen Unterleib mit den Beinen umfangen hielt, lächelnd und beseelt von den genossenen Freuden …
    Immer wieder hatten sich solche Bilder in ihr Denken gezwängt und sie gefoltert, bis sie wusste, dass sie sich von Matthias zurückziehen musste, wenn sie mit heiler Seele weiterleben wollte.
    Dass sich ihre Schwester und Matthias trotz Christinas fortgeschrittener Schwangerschaft nicht wie ein liebendes Paar verhielten, täuschte Eleonora nicht darüber hinweg, dass es mehr zwischen den beiden geben musste, als es den Anschein hatte.
    Matthias schien zu akzeptieren, dass sie sich distanzierte. Von sich aus unternahm er keine weiteren Versuche, die Gespräche unter den Sternen der Ostsee hier auf der Wolga fortzuführen. Es war, als hätten sie mit Überschreiten der Landesgrenze ihre zart gediehene Zuneigung zurückgelassen.
    Der August neigte sich dem Ende zu, und es hieß, die ersten Frostnächte seien nicht mehr fern.
    Eleonora zog die wollene Stola eng um sich, während das Schiff den Fluss hinabglitt und der kühle Wind ihr entgegenblies.
    Sie spürte den Kopf, der sich auf ihre Schulter legte, und wie sich ein magerer Arm bei ihr einhakte. Mit leerem Blick schaute Klara in die Ferne, während sie sich an der Schwester wärmte.
    »Ist es noch weit, Eleonora?«, murmelte sie. »Ich kann nicht mehr …«
    Eleonora wickelte die Stola um sie beide wie einen Kokon. »Es kann nicht mehr weit sein, Klara. Wir haben schon unglaublich viele Meilen hinter uns gebracht. Wir können stolz auf uns

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