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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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die alles in die Landessprache übertrugen.
    Der wichtigste Mann in der Kanzlei war ein Schwede namens Nieberg, der sowohl Russisch als auch Deutsch perfekt sprach und schrieb. Bedauerlicherweise aber war er dem Wodka so zugetan, dass er jede Gelegenheit nutzte, um auszubüxen. Beamte zerrten ihn dann Stunden später, wenn seine Hilfe dringend gebraucht wurde, aus einer der zahlreichen Kabacken, um ihn anschließend mit einer Kette an den Tisch zu fesseln, damit er nicht wieder entwischte.
    Überhaupt herrschten in der Behörde rauhe Sitten, die nicht nur die Frauen des Trecks erschreckten. Wer sich nicht fügte oder seinen Dienst nicht vorschriftsmäßig betrieb, bekam ohne Umschweife die Peitsche zu spüren, aber für Mitleid mit den geschundenen Bediensteten fehlte den Kolonisten die Kraft. Sie hatten genug mit sich und ihrer angeschlagenen Gesundheit zu tun.
    Jedoch führte es bei manch einem zur spontanen Genesung und Verjüngung, als jeder Einzelne von ihnen ohne Unterschied einhundertfünfzig Rubel erhielt. Schwer wog das Geld, das in harten Kupfermünzen ausbezahlt wurde, in den Händen und Beuteln der Menschen, aber eine liebere Last konnte sich an diesem Tag keiner vorstellen. Die Zarin hielt Wort!
    Einhundertfünfzig Rubel waren ein vortreffliches Anfangskapital, mit dem man Pferde, Fuhrwerke, Ackergeräte und Möbel anschaffen konnte. Wenn sie nur endlich ihre Häuser in Besitz hätten nehmen können!
    Es dauerte weitere drei Tage, bis zum Abmarsch aufgerufen wurde, und so mancher erlag der Versuchung, sich eines Großteils der Kupferlast zu erleichtern, wobei ihnen die Einheimischen, die längst spitzbekommen hatten, wann Zahltag war, nur zu gern halfen.
    Franz Lorenz stürzte sich Hals über Kopf in das Kneipenleben Saratows, zechte in den Kabacken und hatte seinen Spaß daran, die russischen Saufkumpane freizuhalten. Was für ein Genuss nach all den entbehrungsreichen Monaten, endlich wieder aus dem Vollen zu schöpfen und der Welt zu zeigen, wie viele Gläser Wodka in einen hessischen Ackerknecht passten!
    Anja wusste um seine Saufgelage, aber es schmerzte sie nur um das Geld, das er mit beiden Händen verschleuderte in dem naiven Glauben, Freunde unter den Einheimischen zu gewinnen, die ihm irgendwann nützlich sein konnten. Sollte er sich doch totsaufen! Sollte er sich ausbeuten lassen, der eitle Geck – was scherte es sie.
    Auch Anton von Kersen machte Bekanntschaft mit dem Gesindel, das von allzu leichtgläubigen deutschen Kolonisten lebte. Er taumelte aus einer der Kneipen, grölend eine letzte Flasche schwenkend, als es plötzlich hinter ihm klackerte. In einer schleppenden Drehung wandte sich der Kolonistenvorsteher um. Er wollte den Grund für das merkwürdige Geräusch erfahren und konnte nur noch staunen, wie flink fremde Finger die auf das Pflaster prasselnden Münzen aufklaubten. Sein empörtes »He!« verhallte in der Abendluft, die nur Kälte versprach, aber keine Befreiung von dem Geruch nach Verdorbenem und Verfaultem. Ein spindeldürrer Russe hatte von Kersens zum Bersten mit Kopeken gefüllten Gürtelsack von hinten aufgeschlitzt und verschwand in der nächsten Gasse.
    Obwohl mehrere Passanten Zeugen dieses dreisten Raubs waren, rief nicht einer nach den Gesetzeshütern. Anstatt Hilfe bekam von Kersen nur Hohn und Spott zu spüren, als er sich mit ausgebreiteten Armen verzweifelt um die eigene Achse drehte.
    Man kannte die tölpelhaften Deutschen hier. In den Gaststätten überboten sich die Halunken beim Herausposaunen ihrer frechen Heldentaten.
    Matthias hörte von verschiedenen Freunden solche Geschichten. Allmählich hatte er den Verdacht, dass die Russen es als erlaubtes Geschäft ansahen, die Deutschen um ihre Rubel zu erleichtern, die ohnehin von der Kaiserin viel zu großzügig ausgegeben wurden. Ihn zog es weder in die Kneipen, noch mochte er in dem Herbergszimmerchen bleiben, das er sich mit Christina teilte.
    Das Bett war zu schmal für zwei, und keinem von ihnen beiden stand der Sinn danach, eng aneinandergeschmiegt die Nächte zu verbringen. Also schlief er auf dem nackten Holzfußboden, wachte morgens mit knackenden Knochen auf und betete, dass sie bald wieder aufbrechen würden.
    Saratow als im Wachsen begriffene, umtriebige Stadt, wo man sich als Deutscher eine goldene Nase erwirtschaften konnte, reizte ihn schon – aber nicht in dieser Verfassung und ohne Plan. Erst einmal ankommen und sehen, was das Schicksal für ihn bereithielt.
    Es gab hier von Landsleuten

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