Weiße Nebel der Begierde
abgestürzt ist. Juliana konnte ihr nicht helfen. Es war ein schrecklicher, unabwendbarer Unfall. Juliana war seither nie mehr an dieser Stelle.«
»Bis gestern«, sagte Eleanor bekümmert. Das Licht in ihren Augen verlosch und sie schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir so Leid.«
»Bitte machen Sie sich keine Vorwürfe, Miss Harte. Dafür bin ganz allein ich verantwortlich. Ich hätte mit Ihnen darüber sprechen müssen, bevor Sie zu diesem Ausflug aufbrachen.«
Eleanor schwieg eine Weile und dachte mit gerunzelter Stirn über das nach, was sie gerade gehört hatte. Gabriel genoss es, ihr so nah zu sein.
Sie sah an diesem Morgen sogar noch reizender aus als sonst. Sie hatte ihr kastanienbraunes Haar am Hinterkopf zusammengefasst und zu einem lockigen Knoten hochgesteckt. Die Frisur betonte ihren schlanken Hals, die fein geschwungenen Augenbrauen und ihre sanft gerundeten Wangen.
Gabriel überlegte, was in ihrem Kopf vorgehen mochte. Bezweifelte sie seine Schilderung von Georgianas Tod? Glaubte sie wie so viele andere, dass er seine eigene Frau beseitigt hatte?
Doch als sie ihn wieder ansah, entdeckte er kein Anzeichen von Argwohn oder Verurteilung. Aus ihren grünen Augen sprach nichts als Mitgefühl und noch etwas ... etwas Zartes, Aufrichtiges, das nicht mit Worten zu beschreiben war.
Etwas, was er noch nie zuvor gesehen hatte.
Die Wirkung, die dieser Blick auf ihn ausübte, erschreckte ihn. Offenbar sah sie ihm an, was ihn bewegte, denn sie stand abrupt auf.
»Nun, Sie haben bestimmt viel zu tun«, sagte sie. »Ich möchte Sie nicht länger aufhalten.«
Auch er hielt es für besser, wenn sie jetzt ging. »Ja, ich danke Ihnen, Miss Harte.«
Sie nickte und ging auf die Tür zu, während sich Gabriel wieder dem Brief widmete, den er an seinen Kommissionär in London schrieb.
Und in Anbetracht dessen ...
»Mylord, darf ich Ihre Zeit noch einen Moment in Anspruch nehmen?«
Gabriel ließ die Feder sinken, wandte sich zur Tür, vor der Eleanor mit dem Rücken zu ihm stand.
»Ja, Miss Harte?«
Sie drehte sich einem der Regale zu und sagte: »Enthält Ihre Bibliothek auch gälische Literatur?«
Das war die letzte Frage, die er erwartet hätte. »Ja, natürlich. Hauptsächlich Poesie.« Seine Neugier war geweckt. »Können Sie die gälische Sprache lesen, Miss Harte?« Seines Wissens nach hatte sie bei dem Einstellungsgespräch nichts davon erwähnt.
Sie schüttelte den Kopf und seufzte bedauernd. »Nein, leider nicht.«
Sie machte keine Anstalten zu gehen. Gabriel beobachtete, wie sie die Titel der Bücher in den Fächern überflog.
»Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«, bat sie. »Die gälischen Bücher, meine ich.«
Gabriel erhob sich und ging auf sie zu. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Ein Lehrbuch der Sprache wäre ideal, aber wahrscheinlich ist das zu viel verlangt...«
Gabriel suchte die Regale ab, dann sagte er: »Dort ganz oben.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Vielen Dank, Mylord. Aber jetzt möchte ich Sie nicht länger von Ihren Geschäften abhalten. Ich nehme die Trittleiter, dann komme ich allein da hinauf.«
Gabriel zog die Leiter auf Rollen aus der Ecke und stellte sie unter das betreffende Regal, dann kehrte er zu seinem Schreibtisch und dem Brief zurück, während sie sich die Bücher ansah. Er schrieb nur ein, zwei Sätze, dann wanderte sein Blick wieder zu Eleanor, die mittlerweile auf der obersten Stufe der Leiter saß und ein Buch durchblätterte. Eine Locke fiel ihr über die Augen, und ihr Mund bewegte sich lautlos, während sie konzentriert die Worte las.
»Miss Harte?«
Sie hob den Kopf. »Ja, Mylord?«
»Darf ich fragen, was Sie Vorhaben?«
»Gewiss. Mir ist gestern, als ich mit Juliana über die Insel wanderte, aufgefallen, dass nur wenige Menschen hier mit der englischen Sprache vertraut sind. Es war ausgesprochen bedrückend, dass ich mich kaum mit Mr MacNeill verständigen konnte, als ich mit Juliana Hilfe brauchte. Ich dachte, dass ich in meiner Freizeit die Muttersprache dieser Leute lernen könnte.«
Ihr ungewöhnlicher Eifer versetzte ihn in Erstaunen. Die meisten Menschen, die nicht von den Inseln stammten, hielten die Bewohner von Trelay für rückständig, weil sie der Sprache der Krone nicht mächtig waren. Aber Miss Harte hatte Verständnis dafür, dass sie stolz auf das Vermächtnis ihrer Vorfahren waren, und nahm sich sogar vor, Gälisch zu lernen. »Und Sie möchten das nur durch Lesen erreichen?«
»Ja. Mit Latein hat das ganz gut
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