Weiße Nebel der Begierde
auf.
Er sah, wie sie seine Tochter im Arm hielt und ihr all die Liebe und das Mitgefühl schenkte, das die Kleine so lange entbehrt hatte. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er es genau so wenig vermochte, sie fortzuschicken, wie er sich selbst die Liebe zu seinem Kind versagen konnte.
Für einen winzigen Augenblick hätte er schwören können, dass er Georgiana auf dem Bett sitzen und das Kind in den Schlaf wiegen sah. Gabriel spürte die Enge in seiner Brust, als er gegen die widerstreitenden Gefühle ankämpfte. Er hatte sich eingebildet, dass er den Fluch, der seine Familie bis in alle Ewigkeiten heimsuchen würde, von Juliana abwenden könnte, wenn er sich von ihr fern hielt, wie er es seit Georgianas Tod getan hatte. Aber sich die Liebe zu jemandem, zu sei-nem eigen Fleisch und Blut, zu verbieten war wie ein Leben in der Hölle.
Gabriel betrachtete die beiden noch eine Weile, dann drehte er sich ohne ein Wort um und ging. Die leise Melodie, die die Gouvernante summte, folgte ihm. In dem Moment, in dem er gesehen hatte, wie zärtlich die Gouvernante über die kleine Stirn strich, als sein Kind einschlummerte, war sich Gabriel bewusst geworden, dass er sich selbst nur etwas vorgemacht hatte.
Kapitel neun
Eleanor stand in der Tür zu Lord Dunevins Arbeitszimmer und sah ihn ruhig an.
Der Viscount hatte ihr durch Fergus früh am Morgen ausrichten lassen, sie möge ihn hier aufsuchen, sobald es ihr genehm sei. Das war schon einige Stunden her. Sie hatte sich absichtlich Zeit gelassen, lange gefrühstückt und dann bei Juliana im Schulzimmer gesessen und ihr Gedichte vorgelesen.
Nach den Ereignissen des letzten Tages konnte es keinen angenehmen Grund für eine Unterhaltung zwischen ihnen geben. Dunevin würde sie wegen ihrer Achtlosigkeit entlassen, dessen war sich Eleanor sicher, und sie konnte die Aussprache nicht länger auf die lange Bank schieben.
Juliana schien sich zwar über Nacht beruhigt zu haben, aber sie war in sich gekehrter denn je und interessierte sich nicht einmal mehr für das Fernglas; sie zog sich wieder auf ihre Fensterbank zurück und starrte aufs Meer.
Es war kurz nach elf Uhr; der Viscount saß an seinem Schreibtisch und schrieb etwas. Neben ihm stand ein Tablett mit Teekanne und Tasse. Er hatte sein Jackett ausgezogen und trug seine Alltagskleidung - einen Kilt und ein schlichtes Leinenhemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster direkt auf das Papier, das vor ihm lag. Eleanor kam flüchtig in den Sinn, dass er deswegen den Schreibtisch an diese Stelle gestellt haben könnte.
Während Eleanor ihn beobachtete, fuhr er sich achtlos mit einer Hand durch das dunkle Haar, schob es sich aus der Stirn und rieb sich die Augen unter der Brille. Er war so anders als alle Männer, die Eleanor kannte. Ihr ganzes Leben lang war sie von vornehmen Herren umgeben gewesen, viele von ihnen richtige Gecken, die an Schnupftabak schnüffelten, bis sie niesten, mit ihren steifen Krägen aussahen wie Straußenvogel und sich tagelang Gedanken machten, welchen Fuß sie bei einer Verbeugung vorstrecken mussten, um besonders elegant zu wirken.
Aber dieser Mann, dieser furchtlose, unergründliche Schotte, hatte nicht das Geringste mit solchen tänzelnden, näselnden Laffen gemein.
Er war ungezwungen und nobel zugleich, besaß innerliche wie auch körperliche Kraft und wirkte in einer Weise ursprünglich, die ihn noch geheimnisvoller erscheinen ließ. Er war raubeinig, ja, imposant, aber er brauchte seine Stärke niemals zu beweisen oder sich damit aufzuplustern, um in der Menge aufzufallen. Er verschaffte sich allein durch seine Größe und Erscheinung Respekt.
Aber seine Augen waren das Bemerkenswerteste an ihm, fand sie. Der dunkle, zwingende, intelligente Blick übermittelte in erstaunlichem Maße, was er dachte, ohne dass er auch nur ein Wort von sich geben musste. Und schon im nächsten Moment konnten dieselben Augen so undurchdringlich sein wie eine mondlose Nacht.
Eleanor fragte sich, ob er jemals lächelte. Offenbar hatten Sorglosigkeit oder Heiterkeit keinen Platz in seinem Leben. Was hatte ihn dazu gebracht, sein Herz so sehr zu verschließen? Wie es sich wohl anfühlte, wenn diese Hände einen berührten?
Wie, um alles in der Welt, kam sie nur auf eine solche Idee ...?
Eleanor schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. Sie war hier, weil ihr Dienstherr sie zu sich gerufen hatte.
Sie klopfte leise an den Türrahmen. »Sie wünschen, mich zu sprechen,
Weitere Kostenlose Bücher