Weiße Stille
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Danke, sehr gerne.«
Ren setzte sich und zog die Akten auf dem Schreibtisch zu sich heran. Es waren ganz unterschiedliche Fälle: Drogenhandel, Scheckbetrug, Unterschlagung, Kindesmissbrauch, ein Verbrechen an Bord eines Flugzeuges, Misshandlungen innerhalb der Familie, Diebstahl von Lkw-Ladungen, Raub, Nötigung, Körperverletzung.Eine Akte trug die Aufschrift »RUTH«. Darin befanden sich Kopien von polizeilichen Unterlagen über sexuellen Missbrauch von Kindern. Es waren acht Akten, alle mit farbigen, nummerierten Etiketten versehen: die Geschichten von zwölf Mädchen und dem Leid, das ihnen angetan worden war. Die Verbrechen umfassten eine Zeitspanne von fast dreißig Jahren; es ging unter anderem um Exhibitionismus, unsittliche Berührungen, versuchte Entführung und Vergewaltigung sowohl in Summit County als auch in Garfield County.
Ren begann damit, die Unterlagen in aller Ruhe chronologisch zu ordnen. Sie bemerkte, dass Gressett am liebsten über seinen Schreibtisch geklettert wäre, um zu sehen, was sie tat.
»Hat Jean allein an diesen Fällen gearbeitet?«, fragte Ren und hielt die Akte hoch. »Diese kleinen Mädchen und die Perversen. Das hier müssen Kopien der Originalakten sein. Ich nehme an, dass deren Nummern mit denen auf den kleinen Etiketten übereinstimmen.«
Gressett kam zu ihr und schaute sich die Unterlagen an. Dann beugte er sich vor und klappte die Akte zu. »RUTH … ja, die Akte habe ich auf Jeans Schreibtisch gesehen. Sie hat hier bei uns sämtliche Fälle von Kindesmissbrauch bearbeitet.« Er schlug die Akte wieder auf. »Es handelt sich um unterschiedliche Mädchen.«
»Das ist mir schon klar«, sagte Ren.
»Ich dachte, es wäre nur ein einziges Mädchen gewesen, das Ruth hieß.«
Ren schaute sich die Kopien an. » Ein Mädchen von ihnen hieß tatsächlich Ruth. Aber diese Akte trägt keine Nummer. Es scheint die einzige Akte ohne Aktenzeichen zu sein, ohne Foto, ohne Familiennamen, ohne Ortsangabe und ohne Datum. Deshalb frage ich mich, was die Akte hier zu suchen hat.«
»Da kann ich Ihnen auch nicht helfen«, sagte Gressett und ging an seinen Schreibtisch zurück.
»Ich nehme an, Jean ging davon aus, dass es eine Verbindung zwischen all diesen Fällen gab.«
Gressett nickte. »Das vermute ich auch.«
Die Akten über die beiden jüngsten Fälle von Kindesmissbrauch lagen oben auf dem Stapel. Diese Verbrechen waren in den letzten zwölf Monaten verübt worden. Ren verglich die Nummern und zog die Akten heraus. Der Kindesmissbrauch – schamlose Entblößung und versuchte Entführung – waren zunächst bei den Police Departments in Frisco und Silverthorne angezeigt worden. Jean hatte die Mädchen verhört und die Verhörprotokolle abgetippt.
Ren las sie durch. Beeindruckend. Offenbar hatte Jean die Befragungen so geschickt durchgeführt, dass sie von den traumatisierten Kindern viel mehr Informationen bekommen hatte, als es normalerweise der Fall gewesen wäre.
»Ich nehme an, das ist nur einer von vielen Fällen, an denen Jean gearbeitet hat«, sagte Gressett.
Sehr scharfsinnig.
»Außerdem«, fuhr er fort, »hat das in letzter Zeit nicht ihre ganze Zeit beansprucht. Der letzte Vorfall ereignete sich im Oktober vergangenen Jahres. Ich kann mich deshalb so genau daran erinnern, weil Halloween gewesen ist.«
Ren nickte. »Hatte Jean irgendwelche Spuren?«
»Nur Listen polizeilich bekannter Sexualstraftäter. Aber sie hatte keine Beweise, dass es zwischen ihnen und irgendeinem dieser Fälle eine Verbindung gibt.« Er zuckte mit den Schultern.
»Die Täter gehen bei der Auswahl der Kinder und beim Verwischen der Spuren äußerst geschickt vor.«
Gressett nickte, ohne von seinem Computer aufzusehen.
Ren seufzte leise. Mit Tiny Gressett würde es kein gemeinsames Buchprojekt geben.
17.
Ren nahm einen anderen dünnen Stapel Ausdrucke, der auf Jeans Schreibtisch lag.
Was ist denn das?
Versehentlich stieß sie den Kaffeebecher um, den Gressett auf ihren Schreibtisch gestellt hatte.
»Verdammt!«, rief Ren lauter als beabsichtigt, sprang auf und nahm rasch ein Handy-Ladegerät hoch, ehe es nass werden konnte. In Jeans Schreibtischschublade fand sie ein paar Servietten, die sie auf dem Schreibtisch verteilte. Dabei spähte sie zu Gressett hinüber, der jedoch mit ungerührter Miene dasaß. Ren wickelte das Ladegerät in eine Serviette und legte es in eine trockene Ecke. »Hat Jean ein Motorola benutzt?«
»Ich glaub schon«, sagte
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