Weiße Stille
Gressett abwesend.
Ich schaue mir Jeans Unterlagen an, weil ich hoffe, dass es uns bei den Ermittlungen weiterhilft, du Blödmann. Zeig mal ein bisschen mehr Interesse!
Ren starrte schweigend auf die Ausdrucke und tupfte sämtliche Kaffeeflecken weg. Sie hatte nicht schnell genug reagiert, um zu verhindern, dass die meisten Akten an den Rändern etwas abbekommen hatten.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie noch einmal störe, Mr. Gressett, aber wissen Sie vielleicht, was Jean mit diesen Ausdrucken über Domenica Val Pando gemacht hat? Ich weiß nicht einmal, warum …«
»Domenica Val Pando?« Gressett richtete sich auf. »Die Verrückte?« Er streckte eine Hand aus. »Zeigen Sie mal her.«
Ren stand auf und reichte ihm die Ausdrucke.
»Die Frau ist ein lebendes Beispiel dafür, dass es keine Gerechtigkeit auf Erden gibt«, sagte Gressett. »Domenica Val Pando ist eine Psychopathin schlimmster Sorte. Sie hat sich jahrelang in New Mexico verkrochen, Menschen getötet oder zum Krüppel gemacht, mit Drogen gedealt – das volle Programm. Sie hat auch andere losgeschickt, damit sie Menschen umbringen oder verstümmeln. Und immer wieder gelingt es ihr, sich der Verhaftung zu entziehen. Jetzt liegt sie vermutlich an irgendeinem Strand auf Aruba. Und dann ist da Jean Transom, eine wunderbare, hilfsbereite Frau und ausgezeichnete Agentin, und sie ist diejenige, die …« Er schlug mit dem Handrücken auf die Seiten. »Es ist eine Schande, dass dieses Miststück damals nicht ausgeschaltet wurde.«
Im ersten Augenblick dachte Ren, er hätte Jean gemeint.
»Es ging um eine der erfolgreichsten Undercover-Operationen, die das FBI jemals durchgeführt hat«, fuhr Gressett fort und schüttelte den Kopf. »Todd Austerval hat Gary Dettlings Undercover-Programm gestartet, hatte aber keinen Erfolg. Er sagte, dass Dettling den Teilnehmern mit dem Val-Pando-Fall gleich am ersten Tag eine Heidenangst eingejagt habe. Er präsentierte den Fall als höchsten Standard eines verdeckten Einsatzes: ein Agent, der ein ganzes Jahr lang hautnah an Val Pando dran war und unentdeckt blieb. Trotzdem wurde letztendlich alles vermasselt. Und wissen Sie, warum es schiefgegangen ist?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, sagte Ren.
»Weil die Sicherheit des Agenten wichtiger war als der Erfolg«, sagte Gressett. »Darum ging es. Lieber einen gefährdeten Agenten abziehen, als eine Verbrecherorganisation zerschlagen. Das ist die Politik des FBI.«
»Natürlich«, sagte Ren spöttisch. »Zu schade, dass das FBI keine Selbstmordattentäter rekrutieren kann.«
»Das meine ich nicht«, sagte Gressett. »Es ist nur … es schien alles reine Energieverschwendung gewesen zu sein.«
»Die Sicherheit des Agenten steht an oberster Stelle«, sagteRen entschieden. »Aus demselben Grund kehrt der Such-und Rettungsdienst nicht immer wieder in die Berge zurück, um Leichen zu bergen. Man setzt Menschenleben nicht so einfach aufs Spiel.«
»Das kommt darauf an.«
»Worauf?«, fragte Ren.
Du Blödmann hast gut reden. Du sitzt hier in deinem gemütlichen Büro weit von der Schusslinie.
Gressett war es offenbar nicht gewohnt, dass seine Meinung infrage gestellt wurde. »Es kommt darauf an, das Ziel zu erreichen«, sagte er mit Nachdruck. »Oder sehen Sie das anders?«
»Sagen Sie das mal der Frau und den Kindern eines getöteten Agenten. Todd Austerval kann sich glücklich schätzen, dass er es nicht geschafft hat.«
Gressett öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. Todd stand vor der Tür. Er kam gerade schwitzend vom Training.
»Hallo«, sagte er. »Hallo, Ren.« Er zeigte auf den Gang. »Ich gehe schnell duschen, okay?«
Gressetts süffisantes Lächeln zeigte Ren, dass sie von nun an auf sich allein gestellt war.
In keiner der Schubladen fand Ren interessante Unterlagen. Auf keiner Rückseite stand etwas Aufschlussreiches geschrieben, und es gab keine Geheimfächer und keine Notiz, auf der stand: Wenn Sie das hier lesen, wissen Sie, dass ich tot bin. Es fanden sich nur Dinge, wie Ren es von einer so widersprüchlichen Person wie Jean Transom erwartet hätte: ein offenes Buch mit leeren Seiten.
Jean hatte in einem kleinen, gepflegten Reihenhaus in Rifle gewohnt, einer Stadt mit sechstausend Einwohnern, siebenundzwanzig Meilen von Glenwood Springs entfernt, wo die Lebenshaltungskosten niedriger waren. Ren wollte allein zu dem Haus fahren, um sich dort in aller Ruhe umzusehen – ohne die Kollegen mit ihren dummen Bemerkungen und ihren
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