Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
die Lehne. » Glaubst du, mit mir stimmt was nicht? «
» Ich sage dir, was ich glaube: Ich entrümpele dieses Haus. Da ich nicht mehr der Jüngste bin, solltest du mir helfen. Du willst doch nicht nur ein hübsches Kerlchen sein, das zu nichts nütze ist, oder? «
Ich muss lachen. » Ich mag jung sein, aber ich bin auch nicht von vorgestern. Das ist keine Antwort. «
» Wenn du so schlau bist, kannst du mir ja sagen, was läuft. « Dazu grinst er, als hätte er seinen Spaß an dem Wortgefecht. Hier bei ihm zu sein, erinnert mich an meine Kindheit, als ich in seinem Garten in Carney herumgerannt bin, sorglos und frei, den ganzen Sommer lang. Er brauchte uns nicht, um ein Opfer anzuquatschen oder Diebesgut in unseren Taschen zu verstauen. Stattdessen mussten wir den Rasen mähen.
Ich entscheide mich für eine andere Taktik. » Was läuft? Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist, aber bei Maura läuft mit Sicherheit etwas verkehrt. «
Sein Grinsen erlischt. » Was willst du damit sagen? «
» Hast du sie gesehen? Sie sieht doch schrecklich aus! Außerdem hört sie Musik, die nicht da ist. Und ich hab gehört, wie du gesagt hast, Philip würde sie bearbeiten. «
Großvater schüttelt den Kopf und wirft sein verschwitztes Hemd auf den Tisch. » Nicht doch, er– «
» Komm schon « , sage ich. » Ich habe sie gesehen. Weißt du, was sie zu mir gesagt hat? «
Er macht den Mund auf, aber ehe er etwas sagen kann, klopft es, und wir drehen uns beide um. Audreys Gesicht erscheint in der schmutzigen Fensterscheibe der Hintertür. Sie zieht die Stirn kraus, als hätte sie sich geirrt, dreht dann aber doch den Knauf und drückt fest gegen die eingerostete Tür, bis sie aufgeht.
» Wie hast du mich gefunden? « , frage ich vor Schreck so kühl, wie ich es nicht besser hätte spielen können.
» Unsere Adressen stehen im Schülerverzeichnis « , antwortet sie kopfschüttelnd, als wäre ich der letzte Idiot.
» Stimmt, ja « , sage ich, weil ich tatsächlich der letzte Idiot bin. » Entschuldigung, komm doch rein. Danke für– «
» Haben sie dich rausgeworfen? « Sie stützt eine blau behandschuhte Hand in die Hüfte. Während sie mit mir spricht, schweift ihr Blick über die Papierstapel und Aschenbecher, die Modepuppenhände und Teesiebe auf der Arbeitsplatte.
» Erst mal ja « , erwidere ich und zwinge mich, ruhig zu sprechen. Ich dachte, ich hätte mich an das elende Gefühl gewöhnt, jemanden zu vermissen, Audrey zu vermissen, aber in diesem Moment wird mir klar, wie viel mehr ich sie vermissen werde, wenn ich sie nicht mehr täglich im Unterricht oder auf dem Schulgelände sehen kann. Auf einmal ist es mir nicht mehr wichtig, sie wohldosiert zu ignorieren. » Komm, wir gehen ins Wohnzimmer. «
» Ich bin sein Großvater. « Er streckt ihr seine linke Hand hin. Der Gummihandschuh hängt locker an seinen Fingerstümpfen herunter, und ich bin froh, dass sie das vom Todeswerk verrottete Fleisch nicht sehen kann.
Audrey wird blass und presst ihre behandschuhte Hand auf den Bauch, als hätte sie gerade begriffen, wer und was er ist.
» Tschuldigung « , sage ich. » Großvater, das ist Audrey. Audrey– mein Großvater. «
» So ein hübsches Mädchen wie du darf mich Desi nennen « , sagt er, streicht das Haar aus der Stirn und grinst wie ein frecher kleiner Junge, der die Schelte in Kauf nimmt.
Er grinst immer noch, als wir an ihm vorbei ins Wohnzimmer gehen.
Ich setze mich auf das zerschlissene Sofa. Wie findet sie das Haus wohl? Wird sie irgendeinen Kommentar dazu oder zu meinem Großvater abgeben? Wenn ich als Kind Freunde mitbrachte, war ich auf eine trotzige Art stolz auf das Chaos. Ich fand es schön, dass ich wusste, wie man über die Haufen und die Glasscherben sprang, während die anderen Jungen ungeschickt herumstolperten. Jetzt kommt mir das alles nur wie ein Meer des Irrsinns vor, das ich niemandem erklären kann.
Audrey holt einige ausgedruckte Seiten aus ihrer schwarzen glänzenden Handtasche.
» Für dich « , sagt sie, pfeffert die Blätter in meinen Schoß und lässt sich neben mich aufs Sofa fallen. Ihre roten Haare sind etwas feucht– als käme sie gerade aus der Dusche– und kalt an meinem Arm.
Lila hatte blonde Haare, rot vor Blut, als ich sie das letzte Mal sah.
Ich schließe fest die Augen und drücke die Finger darauf, bis ich nur noch Schwarz sehe. Bis die Bilder weg sind. Als ich mit Audrey zusammen war, dachte ich, wenn ich sie dazu bringen könnte, mich zu mögen und
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