Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
gelaufen, getigerte, rötliche, karamellfarbene Katzen, Glückskatzen und Katzen, die so schwarz sind, dass ich sie kaum von ihren Schatten unterscheiden kann. Sie schleichen auf mich zu; zu Hunderten klettern sie übereinander und kommen immer näher. Ich springe auf einen Stuhl und greife nach einem Kerzenhalter, unsicher, was mein krankes Hirn als Nächstes heraufbeschwören wird, als eine kleine verschleierte Gestalt hereinkommt. Sie trägt ein Kleidchen, wie teure Puppen sie anhaben. Lila besaß eine ganze Reihe Puppen in solchen Kleidern, aber ihre Mutter schimpfte mit ihr, wenn sie die Puppen anfasste. Dennoch spielten wir mit ihnen, wenn Lilas Mutter nicht hinsah. Wir zogen die Prinzessinnen-Puppe durch Großvaters Garten, wo wir so taten, als würde einer meiner Power Ranger sie gefangen halten. Ein kaputtes Tamagotchi diente als interstellare Karte– bis das Puppenkleid Grasflecken hatte und am Saum zerrissen war. Dieses Kleid ist auch zerrissen.
Der Schleier verrutscht und fällt zu Boden. Ein Katzengesicht kommt zum Vorschein. Vor mir steht eine Katze auf zwei Beinen, das dreieckige Gesicht zur Seite geneigt, fast als hätte sie sich den Hals gebrochen. Der Körper bleibt unter dem Kleid verborgen.
Ich muss unwillkürlich lachen.
» Ich brauche deine Hilfe « , sagt das kleine Wesen. Die Stimme ist traurig und leise; sie klingt wie Lila, aber mit einem sonderbaren Akzent, der vielleicht dazugehört, wenn Katzen sprechen.
» Okay « , sage ich. Was soll ich sonst sagen?
» Auf mir lastet ein Fluch « , sagt die Lila-Katze. » Ein Fluch, den nur du brechen kannst. «
Die anderen Katzen beobachten uns mit zuckenden Schwänzen und vibrierenden Schnurrhaaren. Sie sind noch immer still.
» Wer hat dich verflucht? « , frage ich und versuche, mir das Lachen zu verkneifen.
» Du « , sagt die weiße Katze.
Aus meinem Lächeln wird eine Grimasse. Lila ist tot, und Katzen sollten nicht stehen oder ihre Pfoten flehend aneinanderdrücken, geschweige denn reden.
» Nur du kannst den Fluch wieder aufheben « , sagt sie, und ich versuche, die Bewegung ihres Mauls zu verfolgen, das Fletschen ihrer Reißzähne, um zu sehen, wie sie ohne Lippen spricht. » Überall findest du Hinweise. Wir haben nicht mehr viel Zeit. «
Das ist ein Traum, ermahne ich mich. Ein total verrückter Traum, aber immer noch ein Traum. Und ich träume nicht zum ersten Mal von einer Katze. » Hast du mir die Zunge abgebissen? «
» Sie scheint wieder an Ort und Stelle zu sein « , sagt die weiße Katze, ohne mit ihren verschatteten Augen zu blinzeln.
Ich mache den Mund auf, will etwas sagen, aber etwas krallt sich in meinen Rücken, es tut weh, ich schreie.
Ich schreie und schrecke hoch. Wache auf.
Der Regen prasselt beständig an mein Fenster und ich bin klatschnass. Triefend klebt das Bettzeug an mir. Ich bin wieder in meinem Zimmer, in meinem alten Bett, und meine Hände zittern so heftig, dass ich mich daraufsetzen muss.
FÜNFTES KAPITEL
ALS ICH AM NÄCHSTEN MORGEN in die Küche wanke, kocht Großvater schon Kaffee und brät Eier in ausgelassenen Speckscheiben. Ich habe eine Jeans und ein verschlissenes Wallingford-T-Shirt angezogen. Die kratzigen Handschuhe und die würgende Krawatte vermisse ich wahrhaftig nicht; zum Ausgleich für den Rauswurf habe ich es wenigstens bequem. Aber ich habe nicht vor, mich daran zu gewöhnen.
Beim Anziehen habe ich ein Blatt gefunden, das an meinem Bein klebte. Das genügte, um mich daran zu erinnern, wie ich von Regen durchweicht aufgewacht war. Ich muss wieder nachtgewandelt sein, aber je länger ich über den Traum nachdenke, umso verwirrter werde ich. Da er nicht tödlich ausgegangen ist, kann man das Zacharov-Rache-Szenario abhaken. Vielleicht träume ich einfach von Lila, weil ich mich schuldig fühle. Schuldgefühle können einen wahnsinnig machen, stimmt’s? Sie nagen von innen.
So wie in der Geschichte » Das verräterische Herz « von Poe, das wir bei Ms Noyes laut vorlesen mussten. Der Erzähler hört das Herz seines Opfers unter den Bodendielen schlagen, immer lauter, bis er schreit: » Ich gestehe die Tat! Hier! Hier! Es ist das grauenhafte Klopfen seines Herzens! «
» Ich muss mit dir reden « , sage ich, nehme eine Tasse und gieße mir erst Milch, dann Kaffee ein. Die Milch blubbert von unten hoch, mitsamt Staubflocken, die ich vielleicht vorher hätte entfernen sollen. » Ich hatte einen merkwürdigen Traum. «
» Lass mich raten. Ein paar Ninja-Ladys haben dich
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