Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
gesamte Familie so ins Grübeln geraten ist, dass sie sich heimlich getroffen hat, um die Möglichkeit zu erörtern. » Außerdem hab ich überlebt. Das macht einen Fluch unwahrscheinlich. «
» Frag doch mal deinen Großvater « , sagt Audrey leise.
Wenn du so schlau bist, kannst du mir ja sagen, was läuft.
Ich nicke und merke kaum, dass sie die Ausdrucke wieder in ihre Tasche stopft. Dann umarmt sie mich vorsichtig und das merke ich schon noch. Ich lege die Hände unten auf ihren Rücken und spüre ihren warmen Atem am Hals. Mit ihr könnte ich lernen, normal zu sein. Jedes Mal, wenn sie mich anfasst, überfällt mich die berauschende Hoffnung, ein Durchschnittstyp werden zu können.
» Es wäre besser, du gehst jetzt « , sage ich, bevor ich etwas Dummes tun kann.
Als sie geht, drehe ich mich an der Tür um und sehe meinen Großvater an. Er dreht einen Schraubenzieher in den Herd, um einen verkrusteten Brenner abzumontieren. Er sieht nicht so aus, als würde er sich schreckliche Sorgen machen, weil der gesamte Zacharov-Clan hinter mir ist. Er hat für die Familie gearbeitet, es ist also nicht so, als wüsste er nicht, wozu sie fähig sind– er weiß es sogar besser als ich.
Vielleicht ist er deshalb hier.
Um mich zu beschützen.
Bei dem Gedanken lehne ich mich mit einer Mischung aus Angst, Schuldgefühlen und Dankbarkeit an die Spüle.
In dieser Nacht schlafe ich in meinem alten Zimmer. Vergilbte Magritte-Poster hängen an der Decke; die Regale sind vollgestopft mit Robotern und Hardy-Boys-Büchern. Ich träume, dass ich mich in einem Unwetter verirre.
Obwohl es ein Traum ist und ich mir dessen im Traum auch bewusst bin, fühlt sich der Regen kalt an und ich kann vor lauter Wasser in den Augen kaum etwas sehen. Gebückt laufe ich auf den einzigen Lichtschein zu, den ich unter dem Schirm meiner vorgehaltenen Hand erblicke.
Ich gelange zu der verwitterten Tür der Scheune hinter dem Haus. Als ich geduckt hineingehe, stelle ich jedoch fest, dass es gar nicht unsere Scheune ist. Statt der alten Werkzeuge und entsorgten Möbel entdecke ich einen langen, von Fackeln beleuchteten Gang. Als ich näher trete, sehe ich, dass die Fackeln von Händen gehalten werden, die zu echt aussehen, um aus Gips zu sein. Eine Hand verändert ihren Griff um den Metallschaft und ich weiche zurück. Doch ich wage mich langsam wieder heran; jedes Handgelenk wurde abgeschnitten und an die Wand geheftet. Ich sehe die schartigen Schnitte im Fleisch.
» Hallo « , rufe ich, wie neulich vom Dach. Nur antwortet heute niemand.
Ich werfe einen Blick zurück. Die Scheunentür steht noch offen und der Regen bildet Pfützen auf den Holzdielen. Weil es ein Traum ist, mache ich mir nicht die Mühe, zurückzugehen und die Tür zu schließen, sondern folge dem Gang. Nachdem ich, so scheint es mir, viel zu lange gegangen bin, komme ich an eine verwitterte Tür, deren Klinke aus dem Huf eines Hirschs besteht. Das raue Fell kitzelt meine Handfläche.
Hinter der Tür liegt ein Futon aus Barrons Zimmer und eine Kommode, die Mom, soweit ich mich erinnere, bei eBay gekauft hat, mit der Absicht, sie apfelgrün zu streichen und ins Gästezimmer zu stellen. In den Schubladen finde ich mehrere alte Jeans von Philip. Sie sind trocken, und die oberste passt mir genau, als ich sie anziehe. An der Tür hängt ein weißes Hemd von Dad; ich erinnere mich an das Brandloch von einem Zigarillo direkt unter dem Ellbogen und an den Duft von Dads Aftershave.
Da ich weiß, dass ich träume, habe ich keine Angst, sondern bin nur verwirrt, als ich in den Gang zurückgehe. Diesmal finde ich Stufen, die zu einer weiß lackierten Tür mit einem Klingelzug aus Kristall führen. Der Klingelzug sieht aus wie einer, mit dem man in einer Soap in herrschaftlichen Villen die Diener ruft, aber dieser besteht aus den glitzernden Kristallen eines alten Kronleuchters. Als ich daran ziehe, läutet es mehrmals und hallt laut durch den Raum. Die Tür öffnet sich.
In der Mitte eines großen grauen Zimmers steht ein alter Picknicktisch mit zwei Gartenstühlen. Vielleicht bin ich ja doch noch in der Scheune, denn die Zwischenräume im Holz der Seitenwände sind so breit, dass ich den Regen vor einem sturmhellen Himmel sehen kann.
Auf dem Tisch liegt eine bestickte Seidendecke, gedeckt mit silbernen Kerzenhaltern, zwei silbernen Platztellern und flachen Tellern mit Goldrand und silbernen Glocken. Zu jedem Gedeck gehört ein Kelch aus Kristallglas.
Aus der Düsternis kommen Katzen
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