Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
Cassel. «
» Ich hab dich so was von verarscht « , sage ich. » Du verlierst deine Erinnerungen und versuchst, das zu überspielen. Mir fehlen auch ein paar. «
Er wirft mir einen sonderbaren Blick zu. » Du meinst die Sache mit Lila. «
» Das ist schon Urzeiten her. «
Er schaut wieder zu Großvater rüber. » Ich weiß noch, wie eifersüchtig du warst, als ich mit ihr zusammen war. Du warst voll in sie verknallt und wolltest mich andauernd dazu bringen, mit ihr Schluss zu machen. Eines Tages komme ich zufällig in Großvaters Keller und da liegt sie auf dem Boden. Du stehst über ihr, mit diesem seltsam erstaunten Gesichtsausdruck. « Ich vermute, er erzählt diese Geschichte nur, um mir eins reinzuwürgen, weil ich ihn in Verlegenheit gebracht habe.
» Und einem Messer « , sage ich. Es stört mich, dass er nicht erwähnt, was mich an der ganzen Sache am meisten quält– mein grässliches Lächeln.
» Stimmt. Ein Messer. Du hast behauptet, du könntest dich an nichts erinnern. Aber man konnte auch so sehen, was passiert war. « Er schüttelt den Kopf. » Philip hatte schreckliche Angst, dass Zacharov es herausfinden würde, aber Blut ist dicker als Wasser. Wir haben die Sache fürdich vertuscht– und ihre Leiche versteckt. Und gelogen. «
Irgendwas ist faul an der Art, wie er seine Erinnerung beschreibt. Als würde er aus dem Gedächtnis ein paar Zeilen aus einem Schulbuch über eine Schlacht zitieren, statt sich selbst daran zu erinnern. Kein Mensch würde sagen, dass Blut dicker ist als Wasser, wenn die ganze Erinnerung voll geschmiert ist mit geronnenem Rot.
» Du hast sie geliebt, stimmt’s? « , frage ich ihn.
Er macht eine Geste– eine Handbewegung, die ich nicht deuten kann. » Sie war schon was Besonderes. « Er zieht einen Mundwinkel hoch und grinst. » Fandest du ja schon immer. «
Er muss gewusst haben, wer in dem Käfig in seinem Zimmer steckte, wer da schrie, fraß, was er ihr hinwarf, und seinen Boden verdreckte. » Wahrscheinlich ist doch was dran an diesem Sprichwort– Ich habe zu sehr geliebt, um jetzt nicht zu hassen. «
Barron neigt den Kopf. » Was willst du damit sagen? «
» Das ist ein Zitat. Von Racine. Wie du vielleicht gehört hast, ist der Grat zwischen Liebe und Hass ziemlich schmal. «
» Du meinst, du hast sie getötet, weil du sie zu sehr geliebt hast? Oder reden wir gar nicht mehr über sie und dich? «
» Keine Ahnung « , antworte ich. » Ich meine nichts Bestimmtes, aber sei halt vorsichtig –«
Als Philip plötzlich in der Tür steht, verstumme ich.
» Ich bin Mom gerade erst losgeworden « , sagt er. » Cassel, ich möchte mir dir reden. Allein. «
Barron schaut Philip an und wieder zurück zu mir: » Also, was vermutest du denn: Weswegen soll ich vorsichtig sein? «
Ich zucke mit den Achseln. » Ich bin der Letzte, der das wüsste. «
Philip geht mit mir in die Küche, setzt sich an den Tisch und faltet die Hände über den Flecken auf der weißen Tischdecke. In seiner Nähe stehen noch ein paar Teller und mehrere, zumeist leere Weingläser herum. Er greift nach einer Whiskyflasche und gießt die bernsteinfarbene Flüssigkeit in eine benutzte Kaffeetasse. » Setz dich. «
Als ich am Tisch sitze, sieht er mich schweigend an.
» Wieso so grimmig? « , frage ich, aber ich fasse unwillkürlich nach unten, um die Stelle zu massieren, wo die Steinchen unter meiner Haut sitzen. Der Schmerz beruhigt und macht süchtig, wie früher, als ich mit der Zunge immer wieder in die wunde Lücke eines Zahns fuhr, der gerade erst herausgefallen war. » Mom scheint sich ja wirklich aufgeregt zu haben. «
» Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was du zu wissen glaubst « , sagt Philip. » Aber dir ist doch klar, dass es mir nur darum geht und immer nur darum ging, dich zu beschützen. Ich will, dass du in Sicherheit bist. «
Was für eine Scheiße. Ich schüttele den Kopf, widerspreche ihm jedoch nicht. » Na gut. Und wovor beschützt du mich? «
» Vor dir selbst « , antwortet er. Auf einmal schaut er mir direkt in die Augen. Einen Moment lang sehe ich den Kerl, vor dem die Leute Angst haben– die zusammengebissenen Zähne, die Haare, die sein Gesicht halb verbergen. Aber nach all diesen Jahren sieht er mich zum ersten Mal wieder an.
» Vor mir selbst, so ein Quatsch « , sage ich. » Danke, ich bin schon groß. «
» Ohne Dad ist alles viel schwieriger « , sagt er. » Barrons Ausbildung ist nicht billig. Wallingford auch nicht. Moms Gerichtskosten sind
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