Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
es dringt kaum Licht in den Schrank. Mit dem Kinn streife ich einen alten Nerzkragen meiner Mutter, der noch nach ihrem Parfüm duftet.
Ich höre, wie die Haustür geöffnet wird, und dann ruft Philip: » Cassel? Großvater? «
Automatisch mache ich eine jähe Bewegung. Es ist nur ein Reflex, aber Lila packt mich am Arm und bohrt ihre Finger in meinen Bizeps.
» Pssst! «
» Sei doch selbst still « , flüstere ich. Ich habe sie unabsichtlich an den Schultern gepackt, so wie sie es mit mir gemacht hat. Im Dunkeln ist sie ein Phantom. Unwirklich. Sie zittert unter meinen Händen.
Wir haben beide bloße Hände. Wie schockierend.
Sie beugt sich vor.
Dann streifen ihre Lippen über meinen Mund. Sie öffnet den Mund, er ist weich und nachgiebig. Unsere Zähne schlagen aneinander und sie schmeckt wie in all meinen geheimen Gedanken. Diesen Kuss habe ich mit vierzehn ersehnt, und selbst danach noch, selbst als ich wusste, wie krank es war, an sie zu denken. Es ist der Kuss, den ich wollte und nie bekam, und jetzt kann ich nicht an mich halten. Ich versuche mit einer Hand, das Gleichgewicht zu halten, dabei zerre ich so fest an einem Wollmantel, dass der alte Stoff reißt.
Sie beißt mir in die Zunge.
» Er ist nicht hier « , sagt Barron. » Der Wagen ist weg. «
Lila wendet sich ruckartig ab und neigt den Hals so, dass mir ihre Haare ins Gesicht fallen.
» Was meinst du? Ob er Großvater etwas gesagt hat? « , fragt Philip.
» Nein « , antwortet Barron. » Du übertreibst. «
» Du hättest ihn mal hören sollen « , sagt Philip. » Er hat sich erinnert– woran weiß ich nicht. Es reichte jedenfalls, um zu merken, dass er bearbeitet wurde. «
Es knirscht unter einem Schuh. In Anbetracht der vielen Sachen, die dort herumliegen, kann es alles Mögliche sein.
» Er ist einfach ein Klugscheißer « , sagt Barron. » Und du leidest unter Verfolgungswahn. «
Lilas Atem brennt an meinem Hals.
Schritte auf der Treppe verraten, dass sie oben nach mir suchen.
Wir stehen so eng beieinander, dass es unmöglich ist, sie nicht zu berühren. Dabei fällt mir ein, dass sie michberührt haben muss, um mich zum Träumen zu bringen.
» Neulich nachts in Wallingford– warst du da bei mir im Zimmer? « , flüstere ich.
» Sie wollten, dass ich dich hole « , sagt sie. » Du solltest schlafwandelnd zu ihnen gehen. Ich habe ihnen viele Schlafwandler in die Arme getrieben. «
Ich stelle mir eine weiße Gestalt auf der Treppe vor, die auch dem Hund des Hausvorstehers einen Traum beschert, wenn er zu bellen anfängt.
» Warum hast du mich geküsst? « , frage ich leise.
» Damit du still bist « , antwortet sie. » Was denkst du denn? «
Wir schweigen. Und hören zu, wie meine Brüder oben über die knarrenden Dielen gehen. Gehen sie auch in ihre alten Zimmer? Und werden sie in meinem Zimmer alles durchsuchen, so wie ich es bei Barron getan habe?
» Danke « , sage ich schließlich ironisch. Mein Herz schlägt wie eine Rassel.
» Du weißt nichts mehr davon, oder? Das habe ich mir irgendwann gedacht. Barron hat gesagt, du hättest gelacht, als er dir von mir und dem Käfig erzählte. Aber das stimmt nicht, oder? «
» Natürlich nicht « , antworte ich. » Kein Mensch hat mir gesagt, dass du überhaupt am Leben bist. «
Sie lacht kurz und gurgelnd. » Wie hast du dir meinen Tod denn vorgestellt? « Ich denke an den Käfig und daran, dass sie die letzten drei Jahre darin verbracht hat. Was ja wohl jeden um den Verstand bringen würde. Nicht, dass sie mir verrückter vorkommt als andere. Als ich zum Beispiel.
» Ich habe dich erstochen. « Bei diesen Worten bricht meine Stimme, auch wenn ich inzwischen weiß, dass die Erinnerung nicht wahr ist.
Sie schweigt. Ich höre nur das Hämmern meines eigenen Herzens.
» Ich erinnere mich « , sage ich. » An das Blut. Wie ich auf dem Blut ausgerutscht bin. Und dass ich fröhlich war, als wäre ich ungestraft davongekommen. Ich sehe auf deine Leiche hinunter und habe dabei genau dieses Gefühl– die Erinnerung kommt mir immer noch so echt vor. Wie etwas, das man eigentlich gar nicht erfinden kann, weil es so schrecklich war. Und wie ich war– das war schlimmer, als wenn ich nichts gefühlt hätte. Es ist viel schlimmer zu glauben, dass man es genossen hat. « Ich bin froh, dass es um uns dunkel ist. Das könnte ich ihr nie ins Gesicht sagen.
» Sie hatten vor, mich umzubringen « , sagt Lila. » Ich war mit Barron im Haus deines Großvaters, im Keller, und er hat meine Arme
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