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Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ob Emiliennes Nerven der Belastung durch das Klima, die drückende Atmosphäre, die hier bisweilen herrscht, gewachsen sind. Die Luft hier ist förmlich mit Elektrizität geladen. Selbst die Elefanten leiden darunter, und an manchen Tagen ist einfach nichts mit ihnen anzufangen. Heute habe ich viermal das Hemd gewechselt. Lady Makinson verträgt das Klima ausgezeichnet. Mir ist das ein Rätsel. Während ich sogar auf der gedeckten Veranda wegen der starken Sonneneinstrahlung den Hut aufbehalte, verbringt sie viele Stunden ohne Kopfbedeckung im Freien.
     
    In der Nachschrift hieß es:
    Sag Emilienne, sie solle Chininkapseln besorgen.
    Schärfe es ihr ja ein, nur in Kapselform. Das Chinin, das man mir geliefert hat und das ich nicht kontrollieren konnte, ist in Tablettenform. Es taugt überhaupt nichts.
     
    Dann mußte er einfach noch einmal von ihr reden:
    Lady Makinson nimmt gar kein Chinin. Wenn man sie sieht, möchte man schwören, daß es mit ihrer Gesundheit nicht weit her ist, aber sie ist widerstandsfähiger als ein Mann.
     
    Fünf Uhr. Philps war weggefahren. Graux war zwei Stunden lang in der heißen Sonne durch die Plantage gelaufen. Er war völlig naßgeschwitzt, hochrot im Gesicht. Als er heimkehrte, fand er Lady Makinson in der Diele vor, wohin sie sich von Camille und Baligi hatte tragen lassen.
    Er tat, als sähe er sie nicht, holte sich aus einem Regal ein Buch über Volkswirtschaft, goß sich ein Glas Wasser ein, das er in kleinen Schlucken trank.
    »Ferdinand!«
    Er rührte sich nicht.
    »Hören Sie zu, Ferdinand! Wenn Sie sich so kindisch aufführen, kündige ich Ihnen meine Freundschaft auf. Seit zwei Stunden beobachte ich Sie. Ziehen Sie sich endlich um!«
    Sein Hemd war klatschnaß. Wie ein Wahnsinniger war er in der heißen Sonne ziellos umhergelaufen, hatte sich einzureden versucht, er würde sich für den Zustand der Kaffeesträucher interessieren.
    »Mitunter frage ich mich, ob Sie ein fünfzehnjähriger Junge oder ein Mann sind … Nein! Kommen Sie nicht näher … Ziehen Sie sich um …«
    Er gehorchte. Vielleicht brachte er deshalb in seinen abendlichen Aufzeichnungen auf dem Luftpostpapier die Rede auf die Hemden.
    Als er wieder in die Diele trat, las sie in dem Buch über Volkswirtschaft und rauchte dabei eine Zigarette.
    »Lassen Sie mich weiterlesen … Es ist sehr interessant …«
    Dann hob sie den Kopf, sah, daß er sich beruhigt hatte und sagte freundlich:
    »So ist es gut. So habe ich Sie gern … Gestern abend haben Sie einmal Ihre Brille abgenommen, da kamen Sie mir vor wie ein Kind, das sich verlaufen hat …«
    Er erinnerte sich nicht mehr daran, aber es stimmte schon, wenn er seine Brille abnahm, wirkte er mit seinen kurzsichtigen Augen irgendwie verloren.
    »Setzen Sie sich … Bleiben Sie, wo Sie sind …«
    Wenn er wenigstens hätte hoffen können, daß sie einander wieder so nahe kommen würden wie schon einmal! Aber keine Rede davon! Gleich nach dem Essen legte sie sich schlafen.
     
    Heute abend hat sie mir im Laufe des Gesprächs zu verstehen gegeben, daß Philps in ihrem Haus in Istanbul ein und aus geht. Hat sie damit andeuten wollen, daß ihr Mann über ihr Verhältnis Bescheid weiß? Meint Makinson denn, es handle sich um einen harmlosen Flirt?
     
    Dieser Brief würde in den Räumen des Obergeschosses mit den dunklen Möbeln und dem glänzenden Kupferzeug gelesen werden. Evariste Graux pflegte gern zu sagen:
    »Geh nach oben zu deiner Mutter! …«
    Denn hier war ihr Reich, ihre stille, dämmrige Welt. Das war so sinnfällig, daß der Vater abends, wenn er seine Zeitung lesen wollte, in sein Büro hinunterging, wo er sich mehr zu Hause fühlte.
    Sein jüngerer Sohn, der wie er Evariste hieß und das Geschäft weiterführen sollte, war ganz nach ihm geraten.
    »Dein Sohn!« sagte Madame Graux, wenn sie von ihm sprach.
    Ferdinand dagegen war ganz der Sohn seiner Mutter. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie im Alter von zweiunddreißig Jahren ausgesehen haben mochte, als sie so alt war wie Lady Makinson jetzt. Das war so eine Frage …
     
    Im Grunde hat jede Gesellschaftsschicht ihre Moral. Kürzlich hat Camille mich daran erinnert, daß die Mädchen in seinem Dorf erst heiraten, wenn sie ein Kind erwarten, was doch ganz natürlich ist …
     
    Ohne Übergang setzte er hinzu:
    Stundenlang bin ich in der heißen Sonne durch die Plantage gelaufen. Wenn der Regen nicht allzulange auf sich warten läßt, werden wir eine außergewöhnlich reiche Ernte haben

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