Weißer Mann mit Brille
ein.
Das Dienstmädchen tat lautlos ihre Arbeit. Sie war seit fünfundzwanzig Jahren im Haus. Auf der anderen Straßenseite befand sich in der Höhe des ersten Stockes ein riesiger roter Regenschirm aus Zinkblech, der von alters her als Ladenschild diente.
Man hatte das Gefühl, daß das Leben ewig so dahinfließen könnte, daß die Menschen ihre Haltung und ihren Gesichtsausdruck unverändert beibehalten würden, wie auf einem Gemälde im Museum.
Doch dann gab Madame Graux ein unmerkliches Zeichen, und alle erhoben sich. Statt ins Wohnzimmer zu gehen, traten die Männer ans Fenster.
»Willst du dich nicht einen Augenblick hinlegen?« fragte Madame Graux ihre Tochter.
Diese sah fragend zu ihrem Mann hinüber.
»Ich bin im Moment nicht so sehr für Ruhigstellung …«
Emilienne wartete. Schon seit einiger Zeit ließ sie Madame Graux nicht aus den Augen. Sie wußte, daß die ältere Frau ihren Blick richtig deutete und sie genau verstand.
»Komm doch einen Augenblick mit, Emilienne!«
Alle fanden das ganz selbstverständlich. Emilienne folgte Madame Graux in die Nähstube, wo sich rings um die Nähmaschine immer Stoffreste häuften.
»Zeig mir den Brief …«
Sie setzte ihre Brille auf, schaltete das Licht ein, denn die Nähstube ging auf den Hof hinaus, so daß es hier recht dunkel war.
Emilienne sagte nichts. Doch ihre Haltung sprach Bände. Ihr verschlossenes Gesicht, das geradezu versteinert wirkte, eine eigentümliche Starre, die sich ihres ganzen Wesens bemächtigt hatte, gaben überdeutlich zu erkennen, was in ihr vorging:
›Machen Sie sich auf etwas gefaßt! … Die Lage ist ernst … Wir müssen gemeinsam …‹
Madame Graux war kleiner als sie, aber ebenfalls eine zähe Person. Ihr Oberkörper steckte in einem steifen Korsett, wie es sich für eine richtige Mutter in einem Familienbildnis gehört.
»Hast du mit deinem Vater darüber geredet?«
»Noch nicht.«
Sie las den Brief, dabei bewegten sich ihre Lippen, wie man es bei den Betschwestern während der Messe beobachtet.
Meine liebe Emilienne!
Dies hier ist schon der vierte Brief, den ich Dir zu schreiben versuche, und heute morgen kommt der Bus hier vorbei. Ich bin in diesem Moment einfach nicht fähig, Dir zu schreiben. Ich würde nur dummes Zeug reden. Vielleicht würde ich damit ein unwiderrufliches Unheil anrichten.
Ich stecke in einer schlimmen moralischen Krise. Sei mir nicht böse! Gedulde Dich bis zum nächsten Brief und sage Dir, daß ich tue, was in meiner Macht steht, damit alles beim alten bleibt.
Geh zu Mama, die nie um Rat verlegen ist. Moralisch und körperlich bin ich gerädert. Und immer noch lassen die Regenfälle auf sich warten!
Ich umarme Dich,
Dein Ferdinand
Madame Graux seufzte, vermied es, das junge Mädchen anzusehen. Emilienne murmelte:
»Was nun?«
»Ich zeige dir den Brief, den er mir geschrieben hat. Von der ersten Zeile an habe ich gespürt, daß da etwas nicht stimmt …«
Sie öffnete den Wäscheschrank, wo sie Ferdinands Luftpostbriefe aufhob.
»Lies nur … Es sind keine Geheimnisse … Ich komme gleich wieder … Ich muß Getränke servieren …«
Du hast sicher in den Zeitungen gelesen, daß Lady Makinson …
Emilienne setzte sich nicht. Sie war nicht für bequeme Sessel und hingegossene Posen geschaffen.
Denn zwischen mir auf der einen Seite, Lady Makinson und ihrem Gefährten auf der anderen Seite besteht dasselbe soziale Gefälle wie zwischen dem kleinen, hilflosen Ehepaar …
Weiter unten hieß es:
Ich hoffe, daß sie schon morgen abreisen …
Doch gleich darauf wurden diese Worte widerrufen:
Lady Makinson wird bis zum Eintreffen des Propellers … in meinem Haus wohnen.
»Emilienne«, rief Madame Graux, »dein Vater möchte wissen, ob du jetzt gleich aufbrechen willst und ob er auf eine Bridge-Partie in den Cercle gehen kann …«
»Sagen Sie ihm doch bitte, er möchte einen Augenblick warten. Ich habe ihm etwas mitzuteilen …«
Sie las den Brief zu Ende.
In manchen Augenblicken frage ich mich, ob ich nicht auf eine wichtige Entscheidung zusteuere. Die Hitze, das ständig drohende, aber nie ausbrechende Gewitter zehren an meinen Nerven. Auch Lady Makinson verliert mitunter ihre Selbstbeherrschung. Jedenfalls wäre es besser, wenn Emilienne ihre Abreise um einige Wochen verschöbe.
»Er sagt, du sollst dich beeilen, denn in einer halben Stunde fängt die Partie an.«
Gemeint war doch das Zwerglein von einem Vater, also
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