Weißer Mann mit Brille
…
Ob Lady Makinson auf der anderen Seite der Trennwand wohl schlief? Sie hatte die Abhandlung über Volkswirtschaft mitgenommen und schien sich darein vertiefen zu wollen.
Es gab Augenblicke, in denen er die Erinnerung an ihre Umarmungen beinahe wie etwas Schändliches von sich wies. Ja, er schämte sich dieser feuchtheißen Stunden, wo sie sinnlose Worte gestammelt hatten, er schämte sich so mancher Ungeschicklichkeit, seines tierhaften Lustgefühls …
Doch dann klang ihm wieder die Stimme der Geliebten in den Ohren, wenn sie ihn zum Beispiel beim Namen rief, er ballte die Fäuste, erhob sich und hätte beinahe wieder an ihre Tür geklopft.
Was mochte in Camille vorgehen, der in der Diele schlief?
Am nächsten Morgen fand er ihn dort in tiefem Schlummer vor, denn er war lange vor Sonnenaufgang aufgestanden, um das Eingeborenendorf zu inspizieren.
Als er gegen zehn Uhr heimkam, trat Camille eben aus dem Bungalow, wo Lady Makinson in der Diele saß. Graux hatte das Gefühl, daß Camille einer Begegnung mit ihm auszuweichen suchte. Er stieg die Außentreppe hinauf und wurde von einer vergnügten Stimme empfangen:
»Guten Morgen, Talatala!«
Wie vom Donner gerührt, blieb er stehen. Lady Makinson lachte übers ganze Gesicht, in dem sich gleichzeitig zärtliche Rührung malte.
»Guten Morgen, Talatala!« sagte sie noch einmal.
Nach einem kurzen Blick durch den Raum wurde ihm klar, was geschehen war. Neben ihrem Sessel stand ein Stuhl. Zweifellos hatte sie Camille aufgefordert, sich zu ihr zu setzen. Dann hatten sie wohl von ihm gesprochen.
Camille hatte ihr seinen Spitznamen bei den Eingeborenen verraten: Mundele ne Talatala.
Es machte ihr großen Spaß, ihn bei diesem Namen zu nennen, ohne zu ahnen, daß Baligi dasselbe tat, wenn sie allein waren.
»Immer noch so ein Närrchen? Setzen Sie sich zu mir, Talatala … Ein Lächeln für Ihren Gast …«
Talatala …
Es war zu dumm! Sie brauchte nur dieses Wort auszusprechen, und schon schmolz sein Widerstand dahin. Er mußte den Kopf abwenden.
Sie hatte es wohl bemerkt, denn sie sagte eine Weile gar nichts, als wollte sie ihm Zeit lassen, seine Fassung wiederzugewinnen.
»Nun, so kommen Sie schon … Reden wir im Ernst … Philps und Major Crosby werden bald hier sein … Sehen Sie mich an, Monsieur Talatala …«
5
Monsieur Tassin, der Notar, wirkte irgendwie verquer. Das war jedenfalls der erste Eindruck, den man von ihm hatte. Bei genauerem Hinsehen wurde man gewahr, daß es an seiner einen geschwollenen Backe lag, die einen fast vermuten ließ, er habe andauernd einen Priem im Mund.
Manch einer, der ihm zum erstenmal begegnete, hegte wirklich diesen Verdacht, denn Tassin hatte einen Sprachfehler, suchte sein Lispeln zu überspielen, verhaspelte sich, redete dann immer schneller, abgehackter und verschluckte die Hälfte der Silben.
Wie viele kleinwüchsige Männer hüpfte er von einem Bein auf das andere, fuchtelte mit den Armen, kniff in nervöser Ungeduld die Augen zusammen.
Neben ihm wirkte seine Tochter Emilienne geradezu wie ein Turm. Sie war keineswegs dick, aber doch von hoher, kräftiger Statur. Sie war kerngesund und hatte eine marmorweiß schimmernde Haut.
»Aber nein, Papa!«
Unvermittelt unterbrach sie ihren Vater.
»Das war nicht voriges Jahr, sondern vor zwei Jahren …«
Vor fünfzehn Jahren war ihm seine Frau gestorben, worauf seine Tochter mit derselben Autorität die Zügel in die Hand nahm und ihn bevormundete, wie er es nicht anders gewohnt war. Nur die Jäger von Moulins, in deren Verband er den Vorsitz führte, und seine Bridge-Freunde nahmen ihn ernst.
Eben ging das Abendessen bei den Graux, das im Obergeschoß eingenommen wurde, zu Ende. Es war Anfang Juni. Durch die offenen Fenster strömte die milde Abendluft ins Zimmer. Die Straßengeräusche bildeten eine friedliche Untermalung zum Tischgespräch.
Evariste Graux, der Vater, aß mit abwesendem Gesichtsausdruck und gab sich nicht die geringste Mühe, der Unterhaltung zu folgen, weil er ohnehin wußte, daß Tassin das Reden am liebsten allein bestritt.
Evariste Graux junior, ein dreiundzwanzigjähriger Junge, wartete nur darauf, daß man vom Tisch aufstand, um sich zu einer Versammlung im Automobilklub des Departements Allier zu begeben.
Marie-Thérèse, die kurz vor ihrer Niederkunft stand, hatte ihre frischen Farben verloren, und ihr Mann, ein blonder junger Mensch, der dem Notar an Nervosität kaum nachstand, ging als einziger auf dessen Redeschwall
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