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Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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antwortete sie nicht einmal. Das war doch jetzt völlig unwichtig! Sie hielt noch den Brief in der Hand, als sie sagte:
    »Was halten Sie davon?«
    »Und du?«
    Emiliennes Augen waren trocken, aber sie war bleicher als gewöhnlich, vor allem aus ihren Lippen, die sie nicht schminkte, war alles Blut gewichen. Voller Hochachtung sah Madame Graux das kräftige, hochgewachsene, scheinbar so selbstsichere Mädchen an, deren Gemütsbewegung sich nur darin zeigte, daß ihr Hals sich einen Augenblick lang verdickte, als wollte sie schlucken.
    »Ich glaube, ich muß fahren«, sagte sie schließlich.
    Sie wollte damit nicht sagen, daß sie nach Hause wollte, damit sich ihr Vater in den Klub begeben konnte. Sie hatte die Reise nach Afrika, zu Ferdinand im Sinn. Sicher war Madame Graux ganz ihrer Meinung, denn statt ihr zu widersprechen, senkte sie nachdenklich den Kopf.
    »Ich möchte dich nicht beeinflussen …«
    »Aber Sie kennen doch Ferdinand ebensogut wie ich! So etwas ist bei ihm noch nie vorgekommen. Es entspricht so wenig seiner Wesensart, daß ich Angst habe … Und Sie?«
    Madame Graux zog es vor, nicht zu antworten.
    »Wenn ich ab Brindisi fliege, kann ich in sieben Tagen dort sein …«
    Die beiden Frauen hegten sicher dieselben Befürchtungen, die sich in Madame Graux’ gemurmelten Worten ausdrückten:
    »Wird er es dir auch nicht verübeln?«
    Da hob Emilienne unmerklich die Schultern, als wollte sie sagen:
    ›Sei’s drum! Ich muß das Äußerste wagen..!‹
    »Wirst du deinen Vater davon in Kenntnis setzen?«
    »Ja.«
    »Was wirst du ihm sagen?«
    Erneutes Achselzucken. Das zählte doch kaum! Doch bevor sie die Nähstube verließ, nahm sie Madame Graux rasch in die Arme.
    »Darf ich sie behalten?« fragte sie und deutete auf die feinen Briefbogen.
    »Wenn du möchtest …«
    Sie ließ sie in ihren Blusenausschnitt gleiten, trat ins Wohnzimmer. Marie-Thérèse und ihr Mann wollten eben aufbrechen. Der Notar stand am Fenster und rauchte seine Zigarre, wobei Evariste Graux ihm Gesellschaft leistete. Er war bei bester Laune und vollführte kleine Luftsprünge.
    »Da bist du ja endlich … Machst du dich jetzt gleich auf den Weg? … Kann ich noch ein Stündchen im Cercle verbringen? … Aber was hast du denn? …«
    Als sie in das weiße Licht der Dämmerung trat, erschraken alle über ihr leichenblasses Gesicht und ihre unnatürliche Ruhe.
    »Mir fehlt nichts … Hört mal … Ich wollte euch sagen, daß ich morgen den Abendzug nach Brindisi nehme …«
    »Was redest du da?«
    Marie-Thérèse und ihr Mann, die schon an der Tür standen, machten kehrt, um das weitere zu hören.
    »Ja, ich muß unbedingt zu Ferdinand fahren … Es geht ihm nicht besonders … Es ist besser, daß ich bei ihm bin …«
    Der Notar blickte zu Madame Graux hinüber und sah, daß sie den Plan guthieß.
    »Ist er wirklich krank?« fragte Graux.
    »Es hat ganz den Anschein!« entgegnete seine Frau. »Ich glaube, sie hat recht …«
    »Und was wird aus mir?« rief der kleine Notar mit der geschwollenen Backe.
    Wie würde er nur zurechtkommen, wenn man ihn einfach sich selbst überließ?
    »Schon gut! Nur hättest du es mir nicht in diesem Ton beibringen sollen …«
    Er wandte den Kopf ab. Plötzlich kamen ihm die Tränen. Er versuchte, Emiliennes Worte zu wiederholen:
    »Morgen …«
    Doch plötzlich überlegte er es sich anders:
    »Wann wirst du wieder heimkommen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Soll ich euch ein Gläschen Weinbrand einschenken?« mischte sich Madame Graux ins Gespräch.
    Friede lag über der Welt. Der Regenschirm gegenüber hatte sich tiefrot gefärbt, die Pflastersteine der Straße schimmerten in härterem Grau, es gab immer weniger Passanten. Bald würde man das Fenster schließen und die Lampen anzünden …
    Und da, aus heiterem Himmel …
    Marie-Thérèse und ihr Mann dachten nicht mehr daran, nach Hause zu gehen, als wollten sie am Unglück teilhaben, das über das Haus hereinbrach.
    »Wirst du fliegen?«
    »Ja, es gibt einen Flug von Brindisi … Ich habe den Flugplan zu Hause …«
    Nur Evariste Graux junior wußte von nichts, saß unbesorgt im Automobilklub und diskutierte. Daß auch der Vater bewegt war, erkannte man an den Seufzern, die sich seinem schweren Leib entrangen, und seinen Mundwinkeln, die schmollend heruntergezogen waren.
    »In zwei Monaten wärest du ja ohnehin weggefahren …«, sagte er immerhin, vor allem um seinen Freund Tassin zu trösten.
    In diesem Augenblick prasselten die ersten Tropfen

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