Weißer Mond von Barbados
Weißen Haus.
Der kleinere und ältere der beiden Männer lehnte sich über die Schalen, in denen die Filme entwickelt wurden, und versuchte die Buchstaben zu lesen.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Sieht aus wie Dinge von größter Wichtigkeit.«
Der zweite Mann war ein Leutnant der Armee und sein Assistent. Offiziell wurde er als Attaché geführt. Er war sehr jung und verhielt respektvoll drei Schritte hinter seinem Vorgesetzten.
»Wir werden es sofort kopieren, General, und in die Akte ›Blau‹ einordnen.«
»Ausgezeichnet«, sagte General Golitsyn noch einmal. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Ich muß gehen, ich habe eine Verabredung mit dem ungarischen Botschafter. Sie bleiben hier, bis die Abzüge fertig sind. Die Akte ›Blau‹ muß morgen früh um neun auf meinem Schreibtisch sein.«
Er ging. Der Leutnant salutierte. Ein anderer Mann kam aus dem Dunkel und öffnete die Tür.
Der General ging hinauf in seine Räume, um die Uniform anzuziehen. Anders als die Diplomaten der westlichen Welt, die zu gesellschaftlichen Anlässen Zivil trugen, bevorzugten die Mitglieder der Sowjetischen Botschaft, soweit sie Offiziere waren, die Uniform.
Der General liebte seine Uniform; auf seiner linken Brust glänzte ein ansehnlicher Ordenssegen, der Lohn für ein Leben im Dienst seines Landes, vervollständigt noch durch ein paar fremdländische Dekorationen.
Diesmal hatte er sie zuerst gesehen. Den Zuwachs für die Akte ›Blau‹.
Aber nur weil der andere nicht da war, hatte er sie zuerst gesehen. Nur dem Namen nach war er, der General, der Kopf dieser Abteilung. Er, ein altes verdientes Mitglied der politischen Hierarchie seines Landes, war der zweite Mann. Aber diesmal hatte er sie zuerst gesehen, die Informationen, die der wichtigste Agent, den die Sowjetunion in der westlichen Welt besaß, zuverlässig wie immer geliefert hatte.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen.« Judith war schon daran gewöhnt, ihren Nachbarn auf dem Balkon zu sehen, wenn sie herauskam, um zu frühstücken. Während der ersten Tage hatte er kein Wort gesagt, sie hatte ihn kaum bemerkt. Entweder war sie unten am Strand, oder sie lag auf ihrem Balkon und las.
Auf dem sonstigen Gelände des Hotels hielt sie sich nicht gern auf, es war ziemlich viel Betrieb, an der Bar und um den Swimmingpool herum amüsierten sich die Leute, bildeten Gruppen, waren manchmal laut und lärmend. Ein paar Mal war Judith schon angesprochen worden, aber sie hatte es bis jetzt vermieden, sich jemand anzuschließen. Zum Schwimmen ging sie immer noch am liebsten in der Nacht, wenn es still und dunkel war. Bisher hatte sie mit dem Nachtportier mehr gesprochen als mit einem der Gäste.
Und sie hatte auch niemals ihren Nachbarn gesehen, wenn er im Schatten des letzten Bungalows stand und sie beobachtete bei ihrem nächtlichen Bad. Außer »Guten Morgen« hatte er noch nichts zu ihr gesagt. Auch er schloß keine Bekanntschaften. Er schien genauso ein Einzelgänger zu sein wie sie und saß ebenfalls allein an einem Einzeltisch. Denn Judith hatte sich geweigert, als der Restaurationsdirektor sie zu zwei ältlichen Kanadierinnen setzen wollte.
An diesem Morgen jedoch wurde überraschenderweise von nebenan eine Konversation eröffnet.
»Es kommt mir heute wärmer vor.«
»Ja«, erwiderte Judith, »scheint mir auch so.«
»Vielleicht wird es regnen. Da hinten sind schon ein paar Wolken zu sehen.«
»O ja? Vielleicht. Aber es macht nichts. Hier dauert das nicht lange.«
»Sie wissen doch, daß Sie sich nie unter diese Bäume stellen dürfen.«
Sie ließ ihr Buch sinken. »Nein? Was für Bäume?«
Er war jünger, als sie gedacht hatte. Dunkelhaarig, mit einem schmalen nervösen Gesicht, die Augen sehr hell, im Mundwinkel einen ironischen Zug.
Sein Blick war so intensiv, daß sie es nicht fertig brachte, weiterzulesen.
»Da, diese dunkelgrünen Bäume. Sie haben einen so komischen Namen, den ich mir nicht merken kann. Aber wenn es regnet, und Sie stehen darunter, verbrennt das Wasser Ihre Haut. Sie sind giftig, diese Bäume. Man hätte es Ihnen sagen müssen.«
»Es war dazu kaum Gelegenheit«, sagte Judith. »Ich habe mit keinem gesprochen, seit ich hier bin.«
»Genau wie ich«, sagte er. »Ich kam hierher, um keinen Menschen zu sehen. Und Sie offenbar auch.«
»Ja«, sagte Judith, »das letzte, was ich mir wünsche, ist ein fröhliches Geschnatter an der Bar.«
»Sie sind keine Amerikanerin, nicht wahr? Kanadierin?«
»Ich bin Engländerin«, sagte
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