Weisser Oleander
Sonne heiß durch die Fliegengitterfenster des Balkons und erhellte die milchige abgestandene Luft, die wie ein feuchtes Handtuch über dem Morgen hing. Ich konnte einen Mann singen hören; die Wasserrohre klirrten, als er die Dusche abstellte. Er war über Nacht geblieben. Sie hatte ihre Grundsätze gebrochen. Sie waren doch nicht in Stein gemeißelt. Sie waren so klein und zerbrechlich wie Papierkraniche. Während sie sich für die Arbeit anzog, starrte ich sie verwundert an und wartete auf eine Erklärung, doch sie lächelte nur.
Die Veränderungen, die nach dieser Nacht eintraten, waren erstaunlich. Sonntagmorgens gingen wir gemeinsam zum Farmers Market. Sie und Barry kauften Spinat und grüne Bohnen, gelbe Tomaten, blaue Weintrauben, die kaum größer waren als Reißzwecken, und einen papierartigen Knoblauchzopf, während ich hinter ihnen herzockelte, stumm vor Verblüffung über meine Mutter, die plötzlich Gemüseauslagen untersuchte, als handele es sich um einen Ausflug in einen Buchladen. Meine Mutter, für die eine Mahlzeit gewöhnlich aus einem Becher Joghurt oder einer Büchse Sardinen und Salzcracker bestand. Sie konnte wochenlang Erdnussbutterbrote essen, ohne es zu merken. Ich sah, wie sie achtlos an den Ständen mit ihren geliebten weißen Blumen, den Lilien und Chrysanthemen, vorbeiging und stattdessen einen Strauß riesiger roter Mohnblumen mit dicken schwarzen Blütenstempeln kaufte. Auf dem Heimweg hielten sie Händchen und sangen gemeinsam mit tiefen, schmachtenden Stimmen alte Hits aus den Sechzigern: »Wear your love like heaven« und »Waterloo Sunset«.
So vieles, das ich mir nie hätte träumen lassen. Sie schrieb kleine Gedichte, die sie ihm in die Jackentasche schob. Wann immer ich eine Gelegenheit fand, fischte ich sie heimlich heraus, um sie zu lesen. Was sie geschrieben hatte, ließ mich rot werden: Mohnblüten bluten Blätter puren Übermaßes. Du und ich, auf unserem süßen Schlachtfeld .
Eines Morgens in der Redaktion zeigte sie mir in einem der wöchentlichen Klatschblätter, Caligula’s Mother, ein Foto, das bei einer Premierenfeier aufgenommen worden war. Sie sahen beide sturzbetrunken aus. In der Bildunterschrift wurde sie als Barrys neue Flamme bezeichnet. Über so etwas regte sie sich sonst ungeheuer auf: eine Frau als Anhängsel eines Mannes. Nun war sie so stolz, als ob sie einen Wettbewerb gewonnen hätte.
Leidenschaft. Nie hätte ich erwartet, dass ihr so etwas zustoßen könnte. In diesen Tagen konnte sie sich manchmal selbst im Spiegel nicht wiedererkennen, die Augen schwarz vor Leidenschaft, ihr Haar zerzaust und moschusduftend, nach Barrys Bockgeruch.
Sie gingen zusammen aus, und hinterher erzählte sie mir lachend davon. »Die Frauen machen ihn an und kreischen mit ihren Pfauenstimmen: ›Barry? Wo hast du bloß gesteckt?‹ Doch das stört mich gar nicht. Jetzt ist er mit mir zusammen. Ich bin die Einzige, die er begehrt.«
Die Leidenschaft beherrschte sie. Vergessen waren die Anspielungen auf seine Ähnlichkeit mit einem Ziegenbock, auf die dringend nötige Zahnbehandlung, seinen schlaffen Körper, seinen erbärmlichen Kleidergeschmack, sein miserables Englisch, seine schamlosen Klischees, die geradezu kriminelle Trivialität seines Werkes, ein Mann, der »Einzigste« schrieb. Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Mutter eines Tages dabei beobachten würde, wie sie im Flur vor unserem Apartment an einem untersetzten Mann mit Pferdeschwanz hing, oder dass sie ihm gestatten würde, während des Abendessens in einem dunklen Hunan-Restaurant in Chinatown die Hand unter ihren Rock zu schieben. Ich sah, wie sie ihre Augen schloss, und konnte die Wellen der Leidenschaft spüren, die sich wie Parfum über die Teetassen hinweg ausbreiteten.
Morgens lag er oft bei ihr auf der breiten, weißen Matratze, wenn ich das Zimmer auf dem Weg zur Toilette durchquerte. Sie sprachen dann sogar mit mir, ihr Kopf in seinen Arm geschmiegt, das Zimmer voll mit dem Duft ihres Liebesakts, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Ich hätte am liebsten laut gelacht. Im Hof von Crossroads of the World saß ich unter einem Peruanischen Pfefferbaum und schrieb »Mr. und Mrs. Barry Kolker« in mein Notizheft. Vor dem Badezimmerspiegel übte ich den Satz: »Darf ich dich ›Dad‹ nennen?«
Ich erzählte meiner Mutter nie, dass ich mir einen Vater wünschte. Ich hatte dieses Thema bisher erst ein einziges Mal angesprochen. Es muss während meiner Kindergartenzeit gewesen sein; wir
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