Weißer Schatten
Tertia ging ihnen den Wein holen. Ich schenkte mir nach. Ich beobachtete, wie gekonnt sie sich bewegte. Sie hatte den Körper
einer jüngeren Frau und wusste es.
Eine weitere Gruppe kam zur Tür herein, zwölf Weiße, sechs Männer und sechs Frauen, Ende dreißig bis Mitte vierzig. Sie begrüßten
diesen und jenen. Es herrschte eine fröhliche Atmosphäre voller Erwartungen.
Tertia nahm einen Bestellblock und trat dann an den neuen Tisch. Sie lachte mit ihnen, berührte hier die Schulter eines Mannes,
dort die Hand einer Frau. Sie kannten einander, aber Tertias Körpersprache war leicht defensiv, ein unbewusstes Statement
von »Ich gehöre nicht wirklich hierher«. Einen »Outlander« hätte Melanie Posthumus sie genannt.
Ich dachte an das Spiel, das Tertia spielen wollte und fragte mich, wie viel Hundert-Rand-Noten sie von Handlungsreisenden
gewonnen hatte. Es war leicht, wenn man genug Erfahrung mit Leuten hatte und wusste, wie man seine Fragen stellen und die
Aussagen vorbringen musste. Ich konnte es besser, denn ich kannte sie. Ich hatte Frauen wie sie am Kap getroffen, als das
Parlament tagte und ich die Long Street, die St. George’s Mall und den Greenmarket Square entlangspazieren konnte. Diese Frauen
hatten alle prinzipiell dieselbe Geschichte. Ich hatte ein Gebot formuliert. Lemmers One-Night-Gebot der quasi-künstlerischen
Frauen. Mehr als eine Nacht, und man wurde zu einem Insekt in ihrem Spinnennetz.
Aus diesem Grund konnte ich das Spiel auch nicht mit Tertia spielen. Ich hatte wegen meines Vorwissens einen unfairen Vorteil.
Der andere Grund bestand darin, dass ihr nicht gefallen würde, was ich zu sagen gehabt hätte.
Tertia war vom Land, höchstens zweihundert Kilometer von hier entfernt. Untere Afrikaans-Mittelklasse. Intelligent. Rebellisch
in der Schule. Ihr Dad war eine schwache Vaterfigur. Sie war das älteste von drei oder mehr Kindern. Ihre Mutter hatte zu
viel zu tun und war zu müde, um sich groß um sie zu kümmern. Durchschnittliche Schülerin. Ihre Figur sorgte seit der Pubertät
für Interesse. Eine große Liebesenttäuschung in |266| der achten Klasse. Sie war ausgezeichnet in Kunst in der Schule, ihr eines großes Talent, aber sie war nicht gut genug, es
wirklich weit zu bringen.
Nach der Schule ging Tertia voller Euphorie in die Stadt – nach Pretoria, um ihrer Kindheit zu entfliehen, weil sie noch nicht
wusste, dass man das gar nicht konnte. Sie lebte in einer kleinen Einzimmerwohnung irgendwo in der Innenstadt, nahm für eine
Weile eine Bürotätigkeit in einer großen Firma an, während sie die Absicht nährte, Kunst zu studieren. Sie begann über orientalische
Philosophie zu lesen, Astrologie zu studieren und die Sternzeichen der Männer zu erfragen, die mit ihr ausgehen wollten.
Sie traf in einem Coffeeshop einen Mann mit dichtem Bart, der Gitarre spielte. Ihren Seelenverwandten. Innerhalb eines Monats
zog er bei ihr ein. Sie schleppte ihn zwei Jahre unter Mühen finanziell durch, denn er glaubte, eines Tages würde er eine
CD aufnehmen, und dann wäre er reich und würde sie beide finanzieren. Nächtelang konnten sie über Esoterisches und Metaphysisches
reden. Er lehrte sie die Geheimnisse der perfekten Fellatio; ihr Sexualleben war ein Marathon der Experimente, er fragte,
ob er aus der Gruppe der weiblichen Coffeeshop-Fans eine dritte Person mit ins Bett bringen konnte. Schließlich erklärte sie
sich dazu bereit, konnte es aber doch nicht über sich bringen, als das andere Mädchen sowohl betrunken als auch hässlich war.
Kurz danach begann die Beziehung zu erlahmen, als sein Interesse an ihr schwand. Er trank mehr und sang weniger. Tertia warf
ihn schließlich raus.
Sie überdachte ihr Leben, suchte jeden Sonntag nach neuen Stellen in der Zeitung, machte die Firma für ihre Frustration bei
der Arbeit verantwortlich; dort ahnte man nichts von ihren besonderen Talenten. Sie bewarb sich erfolglos auf andere Stellen,
aber ihre Qualifikation war nicht hoch genug. Sie meldete sich bei der Unisa für ein Studium in Kunst an – oder Literatur.
Das aber war härtere Arbeit, als sie gedacht hatte, und nach vier Monaten hörte sie auf, ihre Aufgaben abzugeben. |267| Im Büro ließ sie sich mit einem verheirateten Mann ein, dessen Frau ihn nicht verstand. Auch das ging schief.
Wieder überdachte Tertia ihr Leben. Kündigte ihren Job, packte ihren VW Käfer und fuhr allein nach Kapstadt. Zog in eine WG
in Obs oder Hout Bay
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