Weißer Schatten
Ein wie großer
Teil meines Zögerns war bloß ein Zugeständnis an mein Bewusstsein? Ich wusste, dass ich wollte; mich hungerte nach der Intensität
und dem Vergnügen, und ich verspürte den Drang, die Wut wegzuvögeln, die Wut über die unerreichbare Emma, die Wut über meine
Schwäche, meine Durchschaubarkeit und Hilflosigkeit. Lemmer und Sasha. Im Gegensatz zu Martin und Tertia. Auf eine Art waren
wir einander ähnlich, wir hatten uns wie Tiere zwei Stunden lang gepaart. Vor allem würde ich mich an die Hitze erinnern,
die |302| Hitze der Nacht, die Hitze ihres Körpers, in ihr zu sein, die Hitze meiner Leidenschaft und ihres Bedürfnisses. Wie sie in
Dankbarkeit oder Angst gerufen hatte, immer und immer wieder – o Gott, o Gott …
Lichter am Tor unterbrachen meinen Gedankenfluss. Erstaunt kehrte ich in die dunkle Nacht, den Wald zurück, und der erste
Dominostein zitterte.
Ich griff nach der Glock, legte mich auf meinen Bauch und wartete.
Jemand stieg aus dem Wagen, der aussah wie ein Pick-up, und öffnete das Tor. Sie waren zu weit weg, um etwas erkennen zu können.
Der Pick-up fuhr durch das offene Tor – die Lichter waren hell – und wartete darauf, dass der Toröffner es schloss und wieder
einstieg. Dann fuhr der Wagen den Weg entlang.
Ich mied das helle Licht, ich versuchte meinen Nachtblick zu erhalten, aber ich musste wissen, wer in dem Pick-up saß.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht mit einem direkten, offenen Angriff.
Es musste andere geben; das hier wäre das Manöver, um mich abzulenken. Die anderen würden in dunklen Klamotten, mit Balaclavas,
Nachtsichtgeräten und Scharfschützengewehren durch die Nacht schleichen. Ich wandte den Kopf vom Pick-up ab. Mit Augen und
Ohren suchte ich nach anderen. Sollte der Pick-up zum leeren Haus fahren, dort würden sie nichts finden.
Das Fahrzeug kam näher. Es war dunkel in der Kabine. Ich schaute kurz hin. Konnte nicht erkennen, wer darin saß. Sie fuhren
an mir vorbei in den Tunnel aus Bäumen, das Licht flackerte über die Baumstämme.
Die anderen würden nicht durch das Tor kommen. Sie würden über den Zaun klettern, weiter im Osten, vielleicht auch im Westen.
Fünf oder zehn oder fünfzehn Minuten später. Ich musste bloß still warten. Ich schaute auf den grünen Phosphorzeiger meiner
Armbanduhr. 20:38. Warum kamen sie so früh? Warum warteten sie nicht bis zu den frühen Morgenstunden, wenn ich gegen den Schlaf
ankämpfte?
|303| Vermuteten sie, dass ich allein war? Waren sie so zuversichtlich, diese erfahrenen Nachtangreifer, glaubten sie, eine arglose
Beute zu jagen?
Der Motor des Pick-up wurde leiser, und dann wurde es ganz still. Sie mussten vor dem Haus gehalten haben. Geh nicht hin und
sieh nach, mach dir keine Gedanken um sie, warte einfach hier. Warte auf sie.
Leise hörte ich sie vor dem Haus rufen. »Lemmer!« Die letzte Silbe lang gezogen. Sie riefen dreimal. Dann war es wieder still.
20:43. Nichts außer den Nachtgeräuschen.
Meine Nachtsicht wurde wieder normal. Ich schaute langsam hin und her, ich hielt den Atem an, um mehr zu hören.
Nichts.
20:51.
Ich kam ihrer Strategie nicht auf die Spur. Warum sollten sie den Pick-up aus irgendeinem anderen Grund schicken, als mich
abzulenken? Lagen die anderen drei oder vier flach im hinteren Teil, ein Trojanisches Pferd. Das ergab keinen Sinn. Man lenkte
ab, um aus einer anderen Richtung oder an einem anderen Ort zu überraschen, aber wenn das Timing nicht klappte, brach alles
in sich zusammen. Man musste die Aufmerksamkeit an einem Ort A bündeln, während die Komplizen am Ort B eindrangen. Wenn die
Aufmerksamkeit sich verschob, ging die Strategie nicht auf.
21:02. Ich musste den Drang unterdrücken, aufzustehen und zu einem Hügel zu schleichen, um das Haus zu beobachten. Was hatten
sie vor? Warum waren sie so leise?
Untersuchten sie das Gelände? Hatten sie Funkgeräte und gaben den anderen Anweisungen?
Wir können sehen, dass es nur einen Weg hierher gibt; ihr müsst es so und so machen.
Ich würde abwarten müssen. Es gab keine andere Lösung. Aber ich war mir nicht mehr so sicher. Nein, genau das wollten sie.
Zweifel. Wer zweifelt, macht Fehler. Ich hatte die Oberhand. Ich musste sie behalten.
Ich hörte sie gegen 21:08 wieder rufen, meinen Namen und |304| etwas, das ich nicht verstehen konnte. Ich ignorierte sie. Der Griff der Glock lag schweißig in meiner Hand, die Steine und
Baumwurzeln drückten sich unangenehm an
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