Weißer Schatten
Namen lauter, vorsichtiger. Sie reagierte nicht. Langsam ging ich hinein, beugte mich herunter, legte
meine Hand auf ihre Schulter. »Emma …«
|138| »Es tut mir leid«, sagte sie durch das Schluchzen hindurch.
»Das muss es nicht.« Ich berührte ihre Schulter.
»Nichts ergibt einen Sinn, Lemmer.«
Vor zwei Stunden war sie eine Wildkatze gewesen. »Das macht nichts«, sagte ich, aber das half nichts.
»Nichts«, sagte sie, wischte sich die Nase mit einem feuchten Tuch ab und weinte weiter.
»Schon gut, schon gut«, war alles, was mir zu sagen einfiel. Es war nicht besonders hilfreich. Ich setzte mich neben sie aufs
Bett, und sie rückte zu mir heran, sie setzte sich auf und schlang ihre Arme um mich. Dann weinte sie, als würde die Welt
untergehen.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie sich beruhigte, bis sie sich an meiner Brust ausgeweint hatte. Anfangs hing sie an
mir wie an einem Rettungsfloß, während ich ungeschickt ihren Rücken tätschelte, ohne die geringste Ahnung, was ich sagen könnte.
Sie beruhigte sich jedoch, das Schluchzen nahm ab, sie entspannte sich.
Dann schlief sie ein. Zuerst bemerkte ich es nicht. Ich spürte zu deutlich meine verkrampften Beine, meine Sprachlosigkeit,
die Wärme ihres Körpers, ihren Duft und die Feuchtigkeit ihrer Tränen auf meinem Hemd, aber schließlich wurde mir klar, dass
ihr Atem langsam und tief ging, und als ich ihr in die Augen schaute, waren sie geschlossen.
Ich legte Emma sanft auf die Kissen. Die Klimaanlage war kühl. Ich zog die Decke über sie, schlich hinaus und setzte mich
wieder in den Sessel.
Ich musste meine Meinung über sie revidieren. Vielleicht war sie einfach nur eine nette junge Frau, die unglaublich gern ihren
Bruder zurückgehabt hätte. Vielleicht war die Hoffnung mit jeder neuen Information ein wenig geschwunden, aber sie hatte daran
festgehalten, sie hatte sich an die Möglichkeit einer geheimen Verschwörung geklammert – bis heute Morgen. Und jetzt war sie
gefangen zwischen zwei gleichermaßen inakzeptablen Alternativen: Cobie de Villiers war ihr Bruder – |139| und ein Mörder. Oder keines von beidem. Es war, als verlöre sie ihn von neuem.
Oder vielleicht sollte ich vorsichtig sein. Vielleicht sollte ich Lemmers Gebot kleiner Frauen neu formulieren, sodass es
hieß: Trau nicht einmal dir selbst.
Ich konnte mich nicht auf die Zeitschrift konzentrieren. Meine Hände erinnerten sich an die Konturen von Emmas Rücken. Mein
Herz war erfüllt von ihrer Hilflosigkeit, ihrer Verzweiflung.
Ich war bloß der Bodyguard. Ich war der Einzige, der hier war, sie hätte an jedermanns Schulter geweint.
Sie war eine intelligente, wohlsituierte, hübsche junge Frau. Ich war Lemmer aus Seapoint und Loxton. Das durfte ich nicht
vergessen.
Dann fiel mir ein, dass ich schon zum zweiten Mal in vierundzwanzig Stunden Emma le Roux zu Bett gebracht hatte. Vielleicht
sollte ich um einen Bonus bitten.
|140| 18
Spät am Nachmittag verbrachte Emma über eine Stunde im Bad. Als sie herauskam, fragte sie: »Gehen wir essen?« Man konnte nicht
sehen, dass sie geweint hatte. Zum ersten Mal trug sie ein Kleid, weiß mit kleinen roten Blumen, die Schultern waren frei,
die Füße steckten in weißen Sandalen. Sie sah jünger aus, doch ihre Augen waren alt.
Wir gingen schweigend durch die Dämmerung. Die Sonne verschwand im Westen hinter dramatischen Gewitterwolken. Blitze flackerten
in den schneeweißen Kumuluswolken. Die Feuchtigkeit war unerträglich, die Hitze unglaublich. Selbst die Vögel und Insekten
waren still. Die Natur schien den Atem anzuhalten.
Susan von der Rezeption, die Afrikaaner-Blondine, die nur Englisch sprach, fing uns auf dem Weg zum Essen ab. »Oh, Miss le
Roux, wie geht es Ihnen? Ich habe von der Mamba gehört, es tut uns allen so leid. Ist Ihre Suite jetzt okay?«
»Alles in Ordnung. Vielen Dank.« Gedämpft, immer noch deprimiert.
»Wunderbar. Genießen Sie ihr Abendessen …«
Als wir uns setzten, sagte Emma: »Ich sollte wirklich lieber Afrikaans mit Ihnen sprechen …«
»Ja«, sagte ich, ohne nachzudenken.
»Sind Sie ein Sprachfanatiker, Lemmer, ein
taalbul
?« Ohne großes Interesse, als wüsste sie, dass ich der Frage ausweichen würde.
»Einigermaßen …«
Sie nickte abwesend und griff nach der Weinkarte. Starrte sie an. Schaute zu mir auf. »Ich …«, sagte sie leise, »manchmal
bin ich so lächerlich.«
|141| Ich bemerkte Schatten unter ihren Augen, die das Make-up
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