Weisser Schrecken
dem es ringsherum stockfinster war. Abgesehen von ihrem angestrengten Keuchen war nur das dumpfe Geräusch herabfallenden Schnees zu hören, der hin und wieder von den schwer behängten Ästen stürzte.
Andreas war froh, dass sie die Skier aus dem Fahrradkeller mitgenommen hatten. Sie kamen damit schneller voran. Mancherorts ragte die Schneedecke fast hüfthoch zu den Stämmen der Bäume auf, während die weiße Pracht an anderen Stellen kaum dazu ausreichte, um den Boden zu bedecken. Das Ganze war äußerst seltsam. Unnatürlich. So wie alles, was sie diese Nacht erlebt hatten. Hin und wieder konnten sie eine flache Bodenerhebung hinabfahren, doch die meiste Zeit über ging es bergauf. Andreas sah kurz auf die Uhr und blieb stehen. Inzwischen war es schon drei Uhr morgens durch.
»Kannst du noch?«, meinte er mit einem Blick zurück zu Robert. Der nickte und blieb tief über seine Skistöcke gebeugt stehen, sichtlich froh über die Pause. Ebenso wie er selbst trug er eine Skimaske aus dunklem Stoff, die lediglich seine Augen und den Ansatz seiner Nase freiließ. Sie hatten die Wollmasken mitgenommen, um der allgegenwärtigen Kälte besser trotzen zu können.
»Ja, aber nicht mehr lange«, drang Roberts Stimme gedämpft an seine Ohren. Auch er beäugte die Abdrücke vor ihnen. »Kacke, wo war Konrad bloß? Wir sind jetzt schon eine gute halbe Stunde unterwegs. Wohlgemerkt auf Skiern. Und diese Spackos haben sogar ihre Kostüme dabeigehabt.« Er kramte eine Salami aus der Jacke, zog sich den Stoff der Mütze vom Mund und biss herzhaft hinein. Anschließend trank er einen Schluck Cola aus einer roten Fahrradflasche, die sie mitgenommen hatten. »Ich sag dir, wenn wir eure Küche nicht geplündert hätten, wäre ich bereits zusammengebrochen.«
Andreas lächelte schmal, trank ebenfalls einen Schluck und runzelte die Stirn. Aufgeregt gab er Robert die Flasche zurück und rückte sich die Skimaske wieder zurecht. »Warte mal. Ich glaube, da hinten enden die Spuren.« Er rammte die Skistöcke in den Waldboden und fuhr ein Stück voraus. Tatsächlich, die Spuren endeten vor einem Hang, der schräg den Berg hinaufführte.
Über ihnen erhoben sich tief verschneite Tannen und kahle Laubbäume, deren Astgabeln und Zweige unter den dicken weißen Hauben fast nicht mehr zu erkennen waren. Zwischen dem Unterholz aber war die Schneedecke aufgewühlt. »Sieh doch, die waren irgendwo da oben.«
Er versuchte den Hang im Grätenschritt hinaufzusteigen, doch das war mit den Skiern zu mühsam. Er löste die Schnallen an seinen Skischuhen und steckte die Bretter in den Schnee. Robert folgte seinem Beispiel. Anschließend rammte Andreas die glatten Sohlen seiner Skistiefel in den Untergrund und zog sich an Ästen und Zweigen den Hang hinauf. Mist, warum hatten sie nicht ihre Wanderschuhe mitgenommen? Die wären jetzt hilfreicher gewesen. Ihr Weg führte sie gute sieben oder acht Meter den Hügel hinauf und endete an einer Art Plateau. Andreas zog Robert hinter sich her, und sie erreichten auf diese Weise ein Areal mitten im Wald, auf dem nur vereinzelte Bäume standen. Stattdessen ragten überall vor ihnen alte Mauerreste aus der Schneedecke auf. »Mann, wo sind wir denn hier gelandet?«, flüsterte er.
Aufgeregt sah er sich um und entdeckte in knapp fünf Metern Entfernung eine geschwärzte Wand aus dicken Quadern, in der die Überreste eines alten Fensters samt steigenden Spitzbogenblenden klafften. Die Mauer ragte fast vier Schritt über ihren Köpfe auf. Auch an anderen Stellen waren Mauerfragmente mit weißen Schneehauben zu sehen, die zum Teil von dickem Wurzelwerk aufgebrochen waren. Dazwischen erhoben sich knorrige Bäume, durch deren Äste flüsternd der Wind strich. Unter den Baumgreisen befanden sich alte Weißbuchen und Sommerlinden, die nicht so recht zum übrigen Baumbestand des Waldes passten. Eine ehemalige Burg? Vage erinnerte er sich doch, schon einmal von einer Ruine im Wald gehört zu haben. Aber von einer Burg war da nicht die Rede gewesen.
»Wahnsinn, ich wusste gar nicht, dass davon noch so viel Reste übrig sind«, wisperte Robert staunend.
»Wovon?« Andreas zog sich den Stoff der Skimaske unter das Kinn.
»Na, von diesem Kloster.«
»Was war das noch mal für ein Kloster?«
»Keine Ahnung.« Auch Robert befreite Mund und Atemwege von dem Stoff. »Aber hier in der Nähe Perchtals soll doch eines gestanden haben. Wenn ich das richtig im Kopf habe, hat es angeblich zu Berchtesgaden gehört, ist aber
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