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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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erzählen, aber dein Vater wollte das nicht. Und nicht nur er. Auch die anderen. Sie … sie haben mich immer unter Druck gesetzt. Sie sagten, du seiest etwas Besonderes. Und dass du nichts von Jonas wissen dürftest, weil dich das nur aufregen würde. Verstehst du?.«
    »Du verlangst von mir Verständnis?«, brach es wütend aus Niklas hervor. »Ausgerechnet du? Mensch, du hast versucht mich umzubringen! Schon vergessen?« Seine Mutter zuckte zusammen. Schluchzend streckte sie eine Hand nach ihm aus, doch er wich angewidert vor ihr zurück.
    »Bitte Niklas«, haspelte sie. »Ich dachte, du hast das schon lange vergessen. Ich … ich war damals einfach überfordert. Aber heute bin ich eine andere. Das musst du mir glauben. Ich habe doch in all der Zeit versucht, das Geschehene wiedergutzumachen. Ich bin keine schlechte Mutter. Ich liebe dich.«
    »Du hast mich so lange gemästet, dass heute jeder über mich lacht!«, ätzte Niklas in einem Tonfall, der all die Verachtung ausdrückte, die er seiner Mutter gegenüber empfand. Sie zitterte.
    »Niklas, du musst wissen, dass du deinem Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten bist. Verstehst du? Wann immer ich dich ansehe, dann denke ich, er stünde vor mir. Das war mehr, als ich damals ertragen konnte.«
    »Wie bitte?« Verwirrt sah Niklas sie an. Was meinte sie damit? Seine Gedanken rotierten und wanderten bei der Bemerkung unwillkürlich zurück zu dem Leichenfund am See. »Was soll das heißen?«
    Seine Mutter schlug sich die Hände vors Gesicht und ließ sich stumm auf einen Schemel fallen. Hinter Niklas Stirn arbeitete es. Das konnte doch nicht sein? Aufgebracht zerrte er die Hände seiner Mutter beiseite und zwang sie, ihn anzusehen.
    »Du willst mir jetzt aber nicht weismachen, dass das so ist wie bei Elke und Miriam und der Toten aus dem See?«
    Seine Mutter schniefte. »Doch. Nur … ist das noch nicht alles.«
    »Du meinst, dass wir alle ältere Geschwister hatten, die verschwunden sind? Das weiß ich längst.« Die Tränen seiner Mutter versiegten, und ein zunehmend verstörter Ausdruck stahl sich in ihren Blick. Niklas ignorierte ihn. »Habt ihr allen Ernstes geglaubt, wir würden nie davon erfahren? Wir wissen längst über sie Bescheid. Wir kennen sogar ihre Namen: Jonas, Michael, Stefan, Gretl und Anna.« Seine Mutter zuckte bei jedem der Namen zusammen, als schlüge er sie ins Gesicht. Erstaunt stellte Niklas fest, dass er in diesem Augenblick Macht über sie besaß. Macht! Und das war nach all den Demütigungen der letzten Stunden ein verdammt gutes Gefühl. Nein mehr noch, es war regelrecht berauschend. Seine Mutter hatte es erst recht verdient. »Also, sag mir endlich, was damals passiert ist.«
    »Es ist so, als wäre es gestern erst geschehen«, keuchte seine Mutter wie in Trance.
    »Was denn, zum Teufel?«
    »Heute am Nikolaustag jährt sich ihr Verschwinden zum sechzehnten Mal. Der Bruder von Pfarrer Strobel hat sie damals in den Wald geführt. Von dort sind sie nie wieder zurückgekehrt. Ich wusste schon immer, dass sie damals umgekommen sind. Auch wenn ihre Leichen nie gefunden wurden. Doch eine Mutter fühlt das …«
    »Warum hat der Pfarrer unsere Geschwister damals in den Wald geführt? Und sag mir auch, was Papa damit zu schaffen hat? Der weiß doch irgendetwas, oder?« Seine Mutter antwortete nicht. Ihr Kinn hing schlaff herunter, und aus ihrem Blick war jeder Glanz gewichen. Apathisch starrte sie den Küchentisch an. »Rede endlich mit mir!«, schrie er sie an. Niklas schüttelte sie, doch sie rührte sich nicht. Zornig wirbelte er herum und rannte zurück in sein Zimmer, um sich dort weiter anzuziehen. Er würde auch so herausfinden, was hier vor sich ging. Die Aufregung machte, dass er schon wieder Hunger bekam. Er packte das Brauchtumsbuch ein und griff dann nach dem Nikolausschuh vor seinem Zimmer, um sich den Stutenkerl und einige Pralinen als Wegzehrung einzustecken.
    »Du willst alles erfahren?« Niklas ruckte herum und entdeckte am Flurende seine Mutter. Sie stand jetzt mit unbewegtem Gesichtsausdruck im Eingang zur Küche und hielt die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
    »Ja, alles.«, antwortete Niklas argwöhnisch.
    »Die Wahrheit ist, dass ihr euren Geschwistern allesamt wie aus dem Gesicht geschnitten seid.« Ihr linkes Augenlid zuckte, als stünde es unter Strom. »Ihr alle seid wie sie. Ihr alle … seid nicht normal.«
    Niklas starrte seine Mutter sprachlos an. War sie jetzt endgültig verrückt geworden? »Das kann nicht

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