Weisser Schrecken
Endlich fühlte er eine seltsame Ruhe in sich aufsteigen. Keuchend atmete er die kalte Winterluft ein, und sein Herzschlag beruhigte sich. Dann nahm er die Brille ab, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Seine Finger waren aufgerissen und bluteten. Doch das war bloß körperlicher Schmerz. Seltsam, man konnte ihn ertragen. Viel leichter, als er immer gedacht hatte. Er setzte sich die Brille wieder auf. Andy oder Robert. Bis die Sache ausgestanden war, brauchte er sie. Anschließend würde er eigene Wege gehen. Ja, so würde er es halten. Von heute an würde sich alles ändern. Nie wieder würde er zulassen, dass man ihn ausnutzte, betrog oder als Fußabtreter hernahm. Seien es nun seine Eltern oder die, die sich bis heute seine Freunde schimpften. Niemand! Im Gegenteil, für jeden Schmerz, dem man ihm zufügte, würde er fortan doppelt so hart zurückschlagen.
Plötzlich fiel ihm auf, dass die Gasse zwischen Bäckerei und seinem Zuhause nahezu verwaist war. Weiter hinten, an einer Kreuzung, war ein Passant zu sehen, der aufgeregt in Richtung Marktplatz lief. Und da waren noch zwei Frauen, die das Gleiche taten. Ähnlich wie die beiden Erwachsenen, die vorhin an seinem Fenster vorbeimarschiert waren und an die er sich jetzt erst zurückerinnerte. Gab es da etwas, von dem er nichts wusste?
Vielleicht etwas, das mit dem Glockengeläut vorhin zu tun hatte? Eigentlich hatte er gerade beschlossen, Andy im Sägewerk aufzusuchen, um von ihm einen Bericht über die Geschehnisse der letzten Nacht einzufordern, doch etwas sagte ihm, dass die Angelegenheit dort hinten auch für ihn wichtig sein mochte. Entschlossen stieß sich Niklas von der Wand ab und marschierte in Richtung Ortsmitte.
Überrascht hielt er inne. Denn unmittelbar vor der Kirche stand eine aufgebrachte Menschentraube. Frauen weinten, wieder andere standen in kleinen Grüppchen zusammen und diskutierten aufgebracht. Unter ihnen befanden sich auch sein Vater und der Bürgermeister. Letzterer sprach beschwichtigend auf einige Männer ein. Selbst Konrad sowie dessen saubere Freunde Lugge, Wastl und Liesel Kahlinger entdeckte Niklas etwas abseits auf dem Marktplatz. Wie er selbst beäugten sie das Treiben auf dem Vorplatz der Kirche mit unverhohlenem Interesse. Konrad trug einen seltsam gehässigen Gesichtsausdruck zur Schau, allein die Vogelscheuche sah aus, als sei sie die Unsicherheit in Person. Irgendetwas war offenbar passiert. Niklas sprach kurzerhand eine Frau an, die soeben den Rückweg antrat.
»Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, was hier los ist?«
»Ach Gott, du weißt es noch nicht, Bub?« Sie senkte verschwörerisch die Stimme. »Sie haben Pfarrer Strobel im Wald gefunden. Angeblich hat er sich im Wald erhängt. Kannst du dir das vorstellen?«
»Pfarrer Strobel ist tot?« Niklas runzelte ungläubig die Stirn.
»Ja, angeblich hat heute früh jemand einen anonymen Hinweis bei Herrn Krapf unter dem Türschlitz durchgeschoben. Du weißt schon, der Leiter unserer freiwilligen Feuerwehr. Er und seine Männer waren es auch, die Strobels Leichnam in den Ort geschafft haben. Ausgerechnet der gute Herr Pfarrer.«
»Weiß man schon, wer diesen Hinweis gegeben hat?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Frau Schmidt, die bei den Krapfs gegenüber wohnt, will um die Uhrzeit einen Jungen auf der Straße gesehen haben. Aber leider konnte sie nicht sagen, wer das war.« Sie seufzte. »Mehr werden wir wohl erst im Laufe des Tages erfahren. Ich geh jetzt erst mal Essen machen.« Sie klopfte ihm aufbauend auf die Schulter und eilte davon.
Niklas stand da wie versteinert. Strobel war tot. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit dieser Nachricht. Und den Tipp hatte Joachim Krapf angeblich von einem Jungendlichen erhalten? Niklas ahnte, dass er in der letzten Nacht einiges verpasst hatte.
Robert stand müde und zerschlagen in Andys zugemülltem Badezimmer und wechselte den Verband an seinem Oberarm. Die Brandwunde an seiner Hand machte das Unterfangen nicht gerade einfacher. Im Gegensatz zu seinem Freund, der drüben im seinem Zimmer auf dem Bett lag und erschöpft schnarchte, hatte er in der Nacht vor Schmerzen kaum ein Auge zubekommen. Die Pistolenkugel hatte die Haut knapp unterhalb seines Schultergelenks aufgerissen und eine Wunde im Fleisch hinterlassen, die aussah, als hätte ihn dort jemand mit einer Sichel bearbeitet. Noch immer fragte er sich, wer der Mann gewesen war, der nicht einmal vor eiskaltem Mord zurückschreckte, um sein Tun
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