Weisser Schrecken
unter der alten Ruine zu verschleiern.
Es war bereits sechs Uhr am Morgen gewesen, als nach seiner geglückten Flucht aus dem Wald auch Andy wieder im Sägewerk aufgeschlagen war. Sein Freund war völlig von der Rolle gewesen. Dessen Nachricht von Strobels grausamem Tod hatte natürlich auch ihn nicht unberührt gelassen. Insbesondere, da sich Perchtals Pfarrer noch bis heute Morgen ganz oben auf ihrer Liste der Verdächtigen befunden hatte. Jetzt standen sie mit ihren Mutmaßungen wieder am Anfang. Was hatten sie bisher überhaupt an sinnvollen Dingen herausgefunden? Nichts. Gar nichts. Robert warf die Schere, mit dem er den Verband zugeschnitten hatte, wütend ins Waschbecken. Die ganze Angelegenheit wurde bloß noch rätselhafter. Dass Andy dem Zugführer der freiwilligen Feuerwehr nach seiner Rückkehr in Perchtal unbedingt hatte einen Hinweis stecken müssen, wo die Leiche des Geistlichen zu finden war, stimmte Robert ebenfalls nicht froh. Er wusste nicht, was er an Andys Stelle getan hätte. Doch vielleicht wäre es besser gewesen, den gepfählten Strobel einfach am Baum hängen zu lassen, bis jemand anderes über ihn gestolpert wäre? Im Augenblick schien es ihm jedenfalls ratsamer, die Füße still zu halten und ja keinen Argwohn zu erregen. Und sei es auch nur, dass dieser Mistkerl nicht wieder auf sie aufmerksam wurde, der auf sie geschossen hatte. Wer auch immer er war, hoffentlich hatte er sie nicht erkannt!
Dass Krapf und seine Feuerwehrleute den Pfarrer inzwischen gefunden hatten, davon war Robert überzeugt. Anders war jedenfalls nicht zu erklären, warum vorhin die Glocken geläutet hatten. Außerdem waren draußen im Sägewerk auffallend viele Arbeiter Richtung Ortsmitte verschwunden.
Robert betrachtete den Verband im Spiegel und war mit sich zufrieden. Andy hatte ihm heute früh ein ganzes Fläschchen Jod über die Wunde gekippt, woraufhin er fast bis an die Decke gesprungen wäre. Nie zuvor in seinem Leben hatte er solche Schmerzen verspürt. Und noch immer pochte die Verletzung, so als ob unter dem Verband Hunderte kleiner Zwerge mit spitzen Hacken auf das Fleisch einschlugen.
Es war wohl besser, wenn er nachher Doktor Bayer einen Besuch abstattete. Ihm würde schon eine Ausrede einfallen, wie es zu der Wunde gekommen war. Außerdem verspürte er den dringlichen Wunsch, seine Mutter auszuquetschen. Was auch immer die anderen davon hielten, heute würde er alles aus ihr herausholen, was sie über die Geschehnisse vor 16 Jahren wusste. Denn egal, was Elke, Miriam und Andy glaubten, vielleicht gab es ja doch noch eine vernünftige Erklärung für den ganzen Irrsinn um sie herum. Die Hoffnung darauf hatte er allerdings so gut wie aufgegeben.
Robert hatte sich gerade wieder das T-Shirt übergestreift, als er unten an der Haustür Geräusche hörte. Erschrocken hielt er inne. Sofort langte er nach dem Hockeyschläger an der Wand und hetzte rüber in Andys Zimmer, um diesen am Bein zu rütteln. Sein Kumpel schreckte wie ein Klappmesser hoch und zog dabei einen Baseballschläger unter der Decke hervor, mit dem er unabsichtlich seinen Radiowecker vom Nachttisch fegte. Laut polternd krachte er zu Boden. Benommen blinzelte er ihn an.
»Ich bin’s!«, zischte Robert. »Da unten an der Tür ist wer!« Andy schien jetzt erst zu begreifen, wer ihn da aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. »Scheiße!« Er rieb sich fahrig den Schlaf aus den Augen, setzte sich auf die Bettkante und schlüpfte in die Schuhe. Er hatte sich mit Jeans und Hemd schlafen gelegt, um bereit zu sein, falls der Kerl aus dem Wald es doch schaffte, sie hier aufzuspüren. »Hast du eine Waffe?« Robert hob entschlossen den Hockeyschläger. Gemeinsam schlichen sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Dort war es stockdunkel. In allen Räumen hatten sie die Rollos vor die Fenster gezogen, lediglich für die kaputte Haustür hatten sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Natürlich hatte ihnen der Vorarbeiter nach dem Türaufbruch letzten Mittag kein Vorhängeschloss mehr vorbeigebracht, sodass sie die Tür von innen mit Tischen und Stühlen verrammelt hatten.
Robert und Andy lugten um die Treppe und entdeckten draußen vor der Haustür einen Schatten. Abermals klopfte es, und diesmal stemmte sich der Unbekannte von Außen gegen die Tür.
»Wer ist da?«, fragte Andy mit scharfer Stimme.
»Ich bin Niklas!«
Mit einem erleichterten Seufzen ließ Robert den Hockeyschläger sinken. »Bist du allein?«
»Ja, bin ich. Was ist
Weitere Kostenlose Bücher