Weisser Schrecken
sein«, krächzte er.
»Aber Jonas, du musst doch nicht so tun, als wüsstet du von nichts …«
Jonas? Seine Mutter zwinkerte ihm komplizenhaft zu, und Niklas versteifte sich unmerklich. Er hatte es zu weit getrieben. Seine Mutter schien wirklich den Verstand zu verlieren. »Mama, hast du deine Tabletten genommen?«
»Aber dich habe ich anders gemacht.« Sie schlug sich kichernd die Faust vor den Mund. Niklas gefror innerlich zu Eis, denn diese Faust hielt ein langes scharfes Küchenmesser gepackt. »Früher warst du schlank, aber heute nicht. Verstehst du?«
Nein, Niklas verstand nicht. Er verstand überhaupt nichts mehr. Alles, worauf er achtete, war dieses verdammte Messer.
»Mama, leg das Messer weg«, sprach er mit belegter Stimme.
»Keine Geheimnisse mehr, Jonas.« Sie kicherte ein weiteres Mal. »Das ist es doch, was du willst, oder? Du kannst es mir also ruhig sagen. Ich bin schließlich deine Mutter.«
»Was sagen?« Niklas sah sich unruhig nach einem Fluchtweg um. Doch er saß hier in der Falle. Seine Mutter starrte verwundert das Messer in ihrer Hand an, und plötzlich verzerrten sich ihre Züge zu einer schrecklichen Grimasse. »Ihr habt eure Mütter benutzt. Jeder von euch. Alle, wie ihr da seid. Doch der alte Bierbichler irrt, wenn er behauptet, dass ihr Engel wärt. Gott würde so etwas nämlich nicht zulassen. Also ist es der andere, der euch den Weg durch unser Fleisch ins Diesseits geebnet hat. Habe ich recht?« Ihre Augen funkelten irre. »Komm, gib es zu, Jonas. In Wahrheit seid ihr allesamt kleine Teufel. Ihr plant doch etwas, ihr heimtückischen Bastarde?«
»Spinnst du?«
»Mann muss euch beseitigen, bevor weiteres Unglück geschieht.« Seine Mutter hob das Messer über ihren Kopf und wollte vorspringen, doch Niklas hatte nur darauf gewartet. Mit einem lauten Schrei schleuderte er ihr den gefüllten Nikolausschuh an den Kopf. Obst und Süßigkeiten prasselten auf den Flur, und mit einem gurgelnden Laut taumelte seine Mutter durch die Wohnzimmertür, krachte dort gegen den Lehnsessel seines Vaters und stürzte auf den Teppich. Niklas stürmte vor, packte die Tür am Knauf und schlug sie zu. Himmel sei dank, der Schlüssel steckte. Er drehte ihn, und es klickte. Aus dem Wohnzimmer erscholl Gejammer.
»Oh Gott, Niklas. Bitte. Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Ich … ich nehme auch meine Tabletten. Ich verspreche es dir.« Niklas stand noch immer geschockt vor der Tür; sein Herz pumpte das Blut derart durch seine Adern, dass er glaubte, sein Kopf müsse platzen. »Bitte vertraue mir!«, drang das gedämpfte Greinen an seine Ohren. »Du bist doch mein Spatz, daran wird sich niemals etwas ändern. Du musst mir verzeihen. Bitte, bitte mach die Tür auf!« Stumme Tränen rannen Niklas über die Wangen. Etwas in ihm wollte seiner Mutter glauben, und einen Augenblick lang war er auch versucht, den Schlüssel wieder umzudrehen. Doch in diesem Moment donnerten von drinnen wütende Tritte gegen das Holz, und er wich weiter in den Hausflur zurück. »Glaubst du wirklich, du könntest mich in meinem eigenen Haus einsperren, du Satansbraten?«, gellte es durch die Tür. Etwas Metallenes hackte ins Holz. »Ich werde dich kriegen und dann zu Ende bringen, was ich begonnen habe. Verlass dich drauf. Ich stech dich ab, du Missgeburt. Ich stech dich ab!«
Niklas zog den Schlüssel ab und steckte ihn zittrig ein. Anschließend rannte er zur Haustür und stürzte auf die Straße. Das eben war nicht passiert. Das eben durfte nicht passiert sein. Er wimmerte leise und taumelte die Gasse hinunter durch den Schnee, stürzte und kam keuchend wieder auf die Beine. Nein, er durfte nicht weinen. Er war doch kein Mädchen. Er musste stark sein. Er wollte doch nicht ebenso seinen Verstand verlieren wie seine Mutter.
Niklas weinte doch. Schluchzend presste er sich gegen eine Hauswand und beäugte von dort aus die Tür. Wo sollte er jetzt hin? Zu seinem Vater? Unmöglich! Nach Hause zurück konnte er ebenfalls nicht. Er traute niemandem mehr. Schon gar keinem Erwachsenen. Aber irgendetwas musste er jetzt tun. Er musste nachdenken. Einen klaren Kopf kriegen. Diesem ganzen Wahnsinn musste doch mit Logik beizukommen sein, oder? Seine Finger krallten sich in das kalte Mauerwerk in seinem Rücken, und er sah zum wolkengrauen Himmel auf, von dem unentwegt weiße Flocken herabregneten. Er schluchzte und schabte mit den Fingerkuppen so lange über das schroffe Gestein, bis der Schmerz schier unerträglich wurde.
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