Weisser Schrecken
Haarschopf hinter das Ohr und zündete sich eine Selbstgedrehte an. »Und du glaubt wirklich, dass diese Geister den Hund auf dich gehetzt haben? Wir hatten vielmehr den Eindruck, als stünden sie irgendwie auf unserer Seite. Das Kissen … Vielleicht wollten sie dich bloß vor dem warnen, was heute wieder mit deiner Mutter auf dich zukommen würde?«
»Stimmt!«, pflichtete ihm Andy bei. »Uns haben sie definitiv gewarnt vor dem, was dann kam.«
Niklas nagte an seiner Unterlippe. »Ja, vielleicht habt ihr recht. Von der Warte aus habe ich es noch gar nicht betrachtet.« Er öffnete unvermittelt seine Jacke und kramte einen großen Stutenkerl hervor, den er auf den Tisch legte. Anschließend zog er ein Buch ins Freie, dessen Einband er ihnen zufrieden präsentierte. »Auf jeden Fall kann ich euch sagen, was es mit diesen Geistern vielleicht auf sich hat. Kinderbischöfe gab es nämlich wirklich.«
»Mann, du hast dieses Brauchtumsbuch tatsächlich gefunden?« Andy beugte sich vor und stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Ja, habe ich. Und Konrad war offenbar ebenfalls an diesem Buch interessiert. Der war neulich-im Vereinsheim und wollte es stehlen.«
»Sieh einmal an.« Andy verengte die Augen und nickte in Roberts Richtung. »Siehste, ich hatte recht. Der Mistkerl hängt da mit drin.«
»Erzähl schon, was steht in dem Buch?«, forderte Robert seinen dicken Freund auf. Ihm tat die Schulter weh, und er wollte noch zu Doktor Bayer.
Niklas klappte den alten Schinken auf und rückte die Brille zurecht. »Der Inhalt ist mehr als nur interessant. Ganz insbesondere nach dem, was ihr letzte Nacht entdeckt habt. Auch wenn ich selbst noch nicht begreife, wie wir all diese Puzzleteile zusammensetzen müssen. Aber ich warne euch schon jetzt. Die Sache ist ziemlich … spooky.«
»Okay, leg los.« Robert inhalierte den Rauch und lehnte sich gespannt zurück. »Mich kann heute gar nichts mehr erschüttern.«
»Warte ab, bevor du so etwas sagst.« Niklas schlug das Buch an einer von vielen markierten Stellen auf. »Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Alles scheint irgendwie zusammenzuhängen.«
»Fang bei diesen Kinderbischöfen an«, schlug Andy vor.
»Also gut. Ihr wisst, welchen Tag wir heute haben?«
»Den sechsten Dezember. Nikolaus!«, antwortete Robert gequält.
»Richtig. Dieser Tag war früher ein kirchlicher Hochfeiertag. Und zwar vor allem in den mittelalterlichen Dom-, Stifts- und Klosterschulen. Das lag am, äh …« Niklas legte den Finger auf eine der Seiten und las das Wort ab. »Das lag am Patrozinium, also an der Schutzherrschaft des heiligen Nikolaus von Myra, der etwa um 350 nach Christus herum in Patara gestorben ist -und zwar an einem sechsten Dezember.«
»Aha«, murmelte Robert und nahm einen neuerlichen Zug. »Der Gute hat ja inzwischen etwas an Glanz eingebüßt. Jedenfalls habe ich mal vor ein paar Jahren gelesen, dass er in den Siebzigern aus dem Kanon der Heiligen gestrichen wurde, weil es zwei Kandidaten gab, auf denen die Nikolaus-Legenden beruhen.«
»Du liest solche Sachen?« Niklas warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Mag sein. Aber das gilt bestimmt nicht für die orthodoxe Kirche in Russland. Dort soll Nikolaus noch immer der populärste Heilige gleich nach Maria sein. Ist im Moment aber auch unwichtig, denn früher gehörte er noch zum Kanon der Heiligen. Wichtig ist erst einmal nur, dass Sankt Nikolaus bis heute von vielen Gläubigen als Schutzpatron verehrt wird. Darunter die Gruppen der Seefahrer, der reisenden Händler und noch einige mehr.« Er blätterte ein paar Seiten zurück. »Alles wegen seiner zahlreichen Wundertaten. Am bekanntesten aber ist seine Funktion als Schutzpatron der Ministranten und Kinder, da er angeblich zu Lebzeiten drei tote und zerstückelte Kinder im Pökelfass eines Wirtes wieder zum Leben erweckt hat. Sicher ist das ebenso Legende wie sein Sterbedatum. Denn das fällt interessanterweise auf den mythischen Geburtstag der Jagdgöttin Diana, deren Tempel der historische Nikolaus von Myra damals an den Küstenorten Lykiens zerstören ließ. Gut möglich also, dass da einiges vermischt wurde.«
»Komm zur Sache«, brummte Andy. »Das ist ja wohl kaum wichtig bei dem, was hier in Perchtal abgeht, oder?«
»Wenn du dich ein kleines bisschen in Geduld üben könntest«, antwortete ihm Niklas bissig, »dann wirst du erkennen, dass das sehr wohl wichtig ist. Mehr noch, das ist bloß der Anfang. Es ist ein Beispiel dafür, wie
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