Weisser Schrecken
die Kirche während der Christianisierung versucht hat, heidnische Religionen und ihre Brauchtümer von der Landkarte zu radieren. Das hatte nämlich Methode. Die Kirche hat in ihrer Geschichte reihenweise Heilige anstelle von alten heidnischen Gottheiten eingesetzt. Sie hat auch Feiertage der bekehrten Völker und Stämme übernommen und ihnen einfach eine neue Bedeutung übergestülpt. Ebenso, wie sie Kirchen auf alten Kultstätten erbauen ließ. All das geschah, um den Bekehrten den Übergang zum Christentum zu erleichtern.« Niklas klopfte auf das Buch. »Mit dem Nikolauskult jedenfalls verhielt es sich so, dass er hier in Deutschland erst im zehnten Jahrhundert durch Kaiserin Theophanu, die griechische Ehefrau von Kaisers Otto II., richtig Fuß fassen konnte. In dieser Zeit entstand auch der Brauch, dass der Nikolaus die Kinder beschenkt. Damals gab es bereits das sogenannte Knabenbischofsfest. Auf Lateinisch nannte man es …«, er rückte die Brille zurecht und las aus einer Textstelle im Buch ab, ›»ludus episcopi puerorum‹. Nur dass es in jenen Tagen am ›Tag der unschuldigen Kinder‹ gefeiert wurde, den die katholische Kirche noch heute am 28. Dezember begeht. Erst später wurde dieses Knabenbischofsfest auf den sechsten Dezember verlegt und mit dem heiligen Nikolaus verschmolzen.«
»Und was war das für ein Fest?«, wollte Robert wissen.
»Ganz einfach«, antwortete ihm Niklas. »Die Schüler an den Stifts- und Klosterschulen wählten damals einen der ihren zum Bischof, Abt oder Probst, der dann in vollem Ornat und mit allem Prunk durch die Straßen gezogen wurde. Dieser Kinderbischof besaß für einen Tag alle Rechte und Pflichten des eigentlichen Kirchenvorstehers. In diesen Stunden herrschte sozusagen eine verkehrte Welt.«
»Moment«, wandte Robert ein. »Du behauptest, der echte Bischof hätte damals mir nichts, dir nichts seinen Platz für einen Jungen geräumt, der nicht einmal volljährig war?«
»Allerdings! Er oder wer sonst das Amt bekleidete, das der Junge einnahm. Dieser Kinderbischof hatte sogar die Macht, die Alten öffentlich zu ermahnen und auch zu bestrafen. Sei es nun der Schulmeister, der die Jungs zu oft züchtigte, sei es der Koch, der die Suppe mit Wasser streckte, oder wer auch immer. Und das war nicht bloß ein lokaler Brauch. Kinderbischöfe gab es ab dem dreizehnten Jahrhundert überall in Europa.« Robert spürte, wie Niklas aufblühte, während er mit seinem Wissen glänzte. »Dieser Brauch trug überhaupt erst dazu bei, dass heute an Nikolaus immer noch Kinder beschenkt werden. Die ganze Sache geriet erst im sechzehnten Jahrhundert durch die Reformation in Vergessenheit, als Martin Luther und die Seinen versuchten, den heiligen Nikolaus durch das Christkind zu ersetzen. Wie ihr vielleicht wisst, hat Luther die Heiligenverehrung komplett abgelehnt, auch wenn er selbst sich nie persönlich gegen das Nikolausfest ausgesprochen hat. Aus dieser Zeit stammen auch die Christkindlmärkte. Sie sollten die Ideen Luthers so ab dem siebzehnten Jahrhundert populär machen.«
»Mann, wie geil ist das denn?« Andy grinste. »Ich wüsste schon einige Kandidaten, denen ich als Kinderbischof ordentlich eingeheizt hätte.« Auch Niklas lächelte böse, wurde aber schnell wieder ernst. »Nach allem, was hier steht, war das Amt sehr begehrt. Oben in Hamburg gab es damals zum Beispiel unter den wohlhabenden Familien einen richtigen Wettbewerb um die Besetzung des Kinderbischofs mit ihren Söhnen. Die spöttischen Bemerkungen der Kinderbischöfe sollen damals zu erheblichen Unruhen geführt haben.« Niklas blätterte vor und suchte wieder nach einer bestimmten Stelle im Buch. »Das Ganze ging so weit, dass sich der Hamburger Senat 1304 dazu gezwungen sah, allzu gehässige Verlautbarungen der Kinderbischöfe offiziell zu verbieten.«
»Und was hat das Ganze mit uns zu tun?«, fragte Andy erneut.
»Begreifst du es nicht?«, herrschte ihn Niklas ungeduldig an. »Kinderbischöfe gab es auch hier in der Alpenregion. Ihr selbst habt doch da oben im Wald die Ruine eines Klosters entdeckt. Das könnte zumindest schon mal die Sache mit diesen Kindergeistern in Bischofsgewändern erklären. Denkt an die Darstellungen auf den Kirchenfenstern hier in Perchtal. Auch das ist unmöglich ein Zufall. Ich verwette meine rechte Hand drauf, dass es diesen Brauch auch hier bei uns in Perchtal gab. Und zwar zuerst oben in diesem Kloster und später dann hier.« Robert wollte etwas erwidern, doch er klappte
Weitere Kostenlose Bücher