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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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kannten Dorle Brunner?«, fragte er aufgewühlt. »Das Mädchen soll doch 1962 verschwunden sein. Habe ich jedenfalls gehört.«
    »Bei meiner Seel’, Bub.« Frau Neubauer sah ihn überrascht an. »Ihr wisst davon? Dabei ist des doch schon so lang her.«
    »Nur beiläufig«, wiegelte Andreas ab. »Die soll damals spurlos im Wald verschwunden sein, oder?« Die Dicke wollte gerade einen weiteren Schluck nehmen, setzte die Tasse aber wieder ab. »Verschwunden im Wald? Nein, uns haben sie gesagt, dass sie davongelaufen sei. Ihr Vater war nämlich ein Zug’reister, und man weiß ja, was man von denen zu halten hat.« Sie warf ihnen einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich denk, der hat sie verhaun bis aufs Blut, der Saubazi, der grausliche. Ihr müsst wissen, ich war damals eine ihrer Freundinnen von der Schul’. Vielleicht sogar ihre allerbeste Freundin.« Sie seufzte. »Ich war damals selbst erst ein Maderl von dreizehn oder vierzehn Jahr’. Die Sach’ hat uns Dirndl freilich gehörig verschrecken tun. Das war dann auch der Grund, warum’s mich in der Schul’ gleich zweimal nicht haben versetzen wollen. Einen ›Schock‹ haben sie es genannt, versteht ihr?« Sie legte die Hand auf die Brust und atmete vernehmlich ein. »Noch heute verspüre ich mancherweil so ein Ziehen, ganz tief hier drin.«
    »Und man hat sie nie gefunden?«, wollte Niklas wissen.
    »Nein, leider nicht.« Anneliese Neuleitner trank einen Schluck Kaffee. »Ich mag mir ja gar nicht ausdenken, was sie dem jungen Maderl wohl haben antun. Sicher ist sie irgendwie auf die schiefe Bahn geraten.« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Aber freilich … Herrschaftszeiten noch mal, ich bin ja so was von einem unsensiblen Depp! Sind eure älteren Geschwister damals nicht ebenfalls, na ja, ihr wisst schon?« Andreas und Niklas wechselten einen knappen Blick. »Ja, sie sind verschwunden. 1978.«
    »Ja, freilich hab ich davon gehört. Ich war damals verheiratet, mit meinem ersten Mann. Ziemlich weit weg von hier. Also drunten in Berchtesgaden. Ich sag euch, Buben, diese Ehe hat mich für immer von der Fremde kuriert. Ein Perchtaler Pflanzl, das versetzt man eben nicht. Das hat mir meine Mutter schon mit auf den Weg gegeben. Hätt’ ich doch damals nur auf sie gehört. Aber ich war eben auch mal jung.« Sie winkte ab. »Kein Wunder, dass ihr glaubt habt, die arme Dorle war’ im Wald verschwunden. Aber eure Geschwister haben sich doch nicht verirrt. Die sind seinerzeit bei einem Unfall umgekommen, oder? Das haben sie uns damals so erzählt. Hier im Gebirg hat es halt viele heimtückische Spalten und Risse. Man stürzt hinein, und – schwupps – weg ist man. Und wenn man Pech hat, taucht man erst Tausende von Jahren später wieder auf. So wie dieser Ötzi, den sie vor drei Jahren in Südtirol gefunden haben. Ja, ja, so kann’s gehen.«
    »Da haben wir was anderes gehört«, meinte Andreas.
    »Ist schon recht, aber vielleicht haben sie sich erst verlaufen und sind dann in eine Schlucht gestürzt. Wer weiß das heut’ schon noch?« Sie lachte, wurde aber schnell wieder ernst. »Seid nur froh, dass ihr sie nie kennengelernt habt. Habt ihr doch nicht, oder? Das macht es jedenfalls einfacher, versteht ihr? Bei mir hingegen, ich sehe meine liebe Freundin Dorle noch heut’ allerweil, als stünde sie direkt vor mir. Wie sehr habe ich sie seinerzeit immer für ihre brauen Locken beneiden tun! Nein, wartet«, sie grübelte. »Ich glaube, sie hat blonde Haare gehabt …«
    »Kannten Sie unsere Geschwister?«, fragte Niklas ungeduldig.
    »Nein. Leider nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht mal kurz ein ›Grüß Gott‹ oder so. Ich hab ja damals drunten in Berchtesgaden gewohnt. Sagte ich doch, oder? Sind die nicht gemeinsam mit dem alten Pfarrer Strobel verschwunden?«
    »Das wissen Sie sicher besser als wir«, antwortete Andreas, der inzwischen kaum noch glaubte, dass der Matrone etwas Sinnvolles zu entlocken war. Sicher hatte sie ihr erster Mann in hohem Bogen vor die Tür gesetzt. Wieso eigentlich erster? Hatte es tatsächlich einen zweiten gegeben?
    »Ja, freilich.« Frau Neuleitner stellte ihre Kaffeetasse auf einer der Glasvitrinen ab. »Und jetzt auch sein jüngerer Bruder, der Herr hab ihn selig. Das mit Pfarrer Strobel heute habt ihr doch schon gehört, oder?«
    »Ja, haben wir«, antwortete Niklas, der weiter an den Schaukästen entlangwanderte.
    »So? Na, wie ihr’s meinen tut. Ich war heute Morgen nämlich mit dabei, wie ihn die Leut’ vom

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