Weisser Schrecken
nicht so interessant, dass ich mir die Einzelheiten gemerkt hätte.«
»Okay, das schauen wir uns näher an.« Andreas sah noch einmal die Gasse zurück, in der sie standen, und klopfte Niklas dann auffordernd auf die Schulter. So schnell es ging überquerten sie den verschneiten Marktplatz und eilten an dem Arbeiter mit der Schneeschippe vorbei, die Stufen zum Eingang des Ortsamts hoch. Der sah ihnen gelangweilt nach. Sie durchquerten einen Windfang und gelangten in eine kleine Eingangshalle, in der es nach Schneematsch und Bohnerwachs roch. Eine geschwungene Treppe am hinteren Ende der Halle führte hinauf zu den Amtsstuben im Obergeschoss. Andreas ließ den Blick kurz über die Tafel links von der Treppe schweifen, auf der ganz bürokratisch die Sprech- und Öffnungszeiten der einzelnen Dienststellen aufgelistet waren. Von irgendwoher war das Klappern einer Schreibmaschine zu hören. Niklas bedeutete ihm, ihm hinüber zu einer Tür mit Milchglaseinsatz zu folgen. Auf ihr war ein Messingschild mit der Aufschrift ›Heimatkundemuseum Perchtal‹ montiert.
Als sie die Tür öffneten, schlug über ihnen eine kleine Glocke mit melodischem Klang an. Vor ihnen lag ein hoher Raum mit Stuck unter der Decke, der hinten einmal um die Ecke führte. Direkt neben dem Eingang befand sich eine Garderobe, an der ein Mantel mit Pelzbesatz hing. Der Raum selbst beherbergte zahlreiche gläserne Schauvitrinen, die sich mit größeren Exponaten abwechselten. Darunter befanden sich mittelalterlich anmutende Grubenlampen und Spitzhacken, aber auch Holzpuppen mit altertümlichen Soldatenuniformen samt einer Auswahl Waffen: Gewehre, Pistolen, Säbel und verrostete Bajonette. Zu ihrer Überraschung duftete es in den Räumlichkeiten angenehm nach frisch gemahlenem Kaffee. Tatsächlich war irgendwo weiter hinten das Blubbern einer Kaffeemaschine zu hören. Schon lugte eine dickliche Mittvierzigerin mit brauner Dauerwelle um die Ecke, die eine weiße Tasse in der Rechten hielt. »Ah da schau her, der schlaue Bursch’ von gestern«, rief die Frau erfreut aus. »Da hast du aber Glück, dass ich noch da bin. Du nimmst deinen Schulaufsatz ja sehr ernst.«
»Ja«, antwortete Niklas einsilbig.
»Und deinen Freund von der Schul’ hast du auch gleich mitgebracht. Bist du nicht der Meyenberger Andreas?« Andreas nickte höflich. Das also war diese Frau Neuleitner. »Wollt ihr auch einen Kaffee? Obwohl, ich weiß ja gar nicht, ob Kaffee in eurem Alter so gut tat. Wie haben sie es doch immer gsungen in dem Kinderliedl?« Sie verschwand wieder hinter der Raumecke und trällerte dort mit schriller Stimme los. »C A F F E E, trink nicht sooo viel Caffee. Nicht für Kinder ist der Tüüüürkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blaaaass und krank. Sei doch kein Muuuselmann, der das nicht lassen kann …« Sie lachte, und sie konnten hören, wie sie sich Kaffee nachgoss. »Ja freilich, das haben wir als kleine Ratzen damals immer g’sungen«, plapperte sie munter weiter. »Ja ja, erst der Kaffee, und jetzt haben sie heut’ überall diese neumodischen Dönerbuden. Und immer haben sie noch nicht genug.« Sie seufzte laut. »Wenn ich mich nur erinnern tat, wer uns dieses Liedl damals wohl bei’bracht hätt’? Das war doch schon damals vorm Großvater seiner Zeit …«
»Wir sind doch keine zehn mehr«, brummte Niklas missmutig. Andreas rollte die Augen. Auch ihm ging diese Frau gehörig auf die Nerven. Er öffnete die obersten Knöpfe seiner Jacke und schlenderte interessiert an den Schaukästen vorüber. In ihnen lagen alte Steinbeile, verformte Lederschuhe, Holzschaufeln und sogar ganze Taschen. Mit Schreibmaschinen beschriebene Zettelchen wiesen Einträge wie »Taurisker, ca. 200 v. Chr.« oder »Keltischer Löffel, um 100 v. Chr.« auf. Andreas hob eine Augenbraue. In einem anderen Schaukasten waren Steinschlegel aus Granulit und Serpentin zu bewundern. »Ja freilich!« Frau Neuleitner tauchte wieder hinter der Raumecke auf und schlürfte genüsslich an ihrem Kaffee. »Ich hab’s doch g’wusst, wer uns das Liedl hätt beibringen tun. Das hat damals die Großmutter von der Dorle immer g’sungen. Ja, die Brunner Dorle, das arme Maderl. Der Herr hab’ sie selig, dass ich an das arme Dirndl gerade heute hab’ wieder zurückdenken müssen …«
Andreas schreckte hoch. Dorle Brunner? Verdammt, das war doch das Mädchen, das 1962 verschwunden war? Jenes Mädchen, mit deren Geist sie gestern Nacht mutmaßlich in Kontakt getreten waren. »Sie
Weitere Kostenlose Bücher