Weisser Schrecken
Elkes Vater verlegen und schlug überrumpelt in die Hand ein, die ihm der Pfarrer hinhielt. »Gott zum Gruße. Wir … wir haben heute gar nicht mit Ihnen gerechnet.«
»Ich hatte schon befürchtet, Sie seien krank. Es ist schließlich noch nie vorgekommen, dass Sie die Sonntagsmesse …« Er hielt inne, da er nun Elke und Miriam erblickte, die noch immer die Rosenkreuze in den Händen hielten. »Komme ich ungelegen?«
»Nein, ich, äh …« Elkes Vater geriet ins Stottern, und sein Gesicht lief feuerrot an. »Ich meine, kommen Sie doch erst einmal herein.« Hastig bedeutete er Elke und Miriam, sich zu erheben, die dem Wunsch liebend gern nachkamen. Miriam liefen noch immer die Tränen über die Wangen, während sich Elke demonstrativ die Knie rieb. Pfarrer Strobel musterte die Mädchen auf eine Weise, die Elke unangenehm war, dann fixierte er die am Boden liegenden Erbsen. Doch statt Empörung glaubte Elke einen Augenblick lang so etwas wie Triumph in seinem Blick aufflackern zu sehen. Nein, sie musste sich getäuscht haben, denn der Pfarrer wandte sich sogleich ungehalten an ihren Vater. »Herr Bierbichler, Sie sollten wissen, dass ich so etwas nicht billige.«
»Ja, äh, aber … sie … Die beiden haben sich mit Jungs eingelassen. Hochwürden sagten uns doch selbst vor einigen Jahren, dass Gott von uns erwarte, dass wir auf die Reinheit ihrer Seelen achten sollen. Gerade jetzt, da sie sich in der …« Mit einer unwirschen Handbewegung schnitt ihm Strobel das Wort ab. »Ich glaube, wir haben uns da missverstanden, Herr Bierbichler.«
»Aber die göttliche Bestimmung der beiden. Sie sagten doch selbst, dass …«
»Ich weiß selbst, was ich damals gesagt habe«, zischte der Pfarrer verärgert und mäßigte sich sogleich. »Aber wie Sie sich vielleicht ebenfalls erinnern werden, schlug ich vor, dass Sie mich aufsuchen sollen, sollte es in dieser Hinsicht je zu Problemen kommen.« Er wandte sich den Zwillingen zu und schenkte ihnen ein öliges Lächeln. »Verzeiht eurem törichten Vater, meine Engel. Manchmal tut man aus Liebe Dinge, die man später bereut.«
Betreten schauten sich Elke und Miriam an.
»Was … was können wir denn für Sie tun, Herr Pfarrer?«, durchbrach Elkes Mutter das einsetzende Schweigen.
»Oh!« Strobel nahm sich die Mütze vom Haupt und klopfte den Schnee ab, als wäre nichts geschehen. »Ich bin eigentlich nicht direkt wegen ihnen beiden hier, Herr und Frau Bierbichler. Ich war besorgt darüber, dass Ihre Töchter nicht wie vereinbart gleich nach der Predigt zur Probe des Weihnachtschors kamen. Da einige andere Mädchen und Buben erkrankt sind, dachte ich mir, ich schaue mal nach dem Rechten.« Er lächelte unergründlich. »Wie sich herausgestellt hat, war das offenbar eine gute Idee.« Schon wandte er sich wieder den Schwestern zu. »Also, ihr beiden. Wie steht es? Ich hoffe, der Weihnachtschor muss ich auf Eure glockenhellen Stimmen nicht verzichten?« Elke sah fragend zu ihren Eltern auf. Erst als ihr Vater den beiden einen Wink gab, liefen Elke und Miriam an den Erwachsenen vorbei nach oben zu ihrem Dachzimmer, das mit einer Blumentapete beklebt und vornehmlich mit Porzellanpuppen, Büchern und religiösen Bildern eingerichtet war. Noch immer schmerzten Elke die Knie.
»Wieso warst du so bescheuert und hast den blöden Zettel behalten?«, schimpfte Miriam los, kaum, dass sie die Tür hinter sich zugezogen hatten. »Du weißt doch, dass sie unsere Sachen kontrollieren.«
»Ich hab halt nicht dran gedacht.« Elke warf beleidigt einen ihrer blonden Zöpfe zurück. »Dass Vater so ausrasten würde, konnte ich doch nicht ahnen.«
Noch immer steckte ihr der Schock über das Verhalten ihres Vaters in den Gliedern, aber Elke beschloss, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Schwester setzte sich unglücklich auf ihr Bett und rieb sich die Beine, während Elke wütend das Sonntagskleid auszog und im Kleiderschrank nach vernünftigen Sachen suchte. Die coolen Kleider, die sie und Miriam in der Schule anzogen, hatten sie ebenso wie den Walkman draußen unter den Dielenbrettern der Laube versteckt. Da kam sie jetzt natürlich nicht heran. Aber sie würde sich beim Chor garantiert nicht in diesem besseren Leibchen zum Gespött machen. Auch Miriam warf sie Schuhe, dicke Strümpfe und ein neues Kleid hin.
»Du ziehst dich um?«, fragte diese ungläubig.
»Ja, Schwesterherz!«, antwortete Elke bestimmt. »Und du gefälligst auch. Wirf mal einen Blick aus dem Fenster. Draußen ist es kalt.
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