Weisser Schrecken
Augen auf. »Das gibt es doch nicht«, entfuhr es ihm und er ging einmal um die vier Körper herum. Andreas und die anderen hatten sich dem Plateau nun soweit genähert, dass sie sehen konnten, dass die vier erstarrten Körper ihrer Selbst in einer bizarren Pose eingefroren waren, die ihn an das berühmte Bild jener US-Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg gemahnte, die gemeinschaftlich ihre Siegesfahne hissten. Nur dass sie alle einen hohen Stab umklammert hielten, der tatsächlich einem Hirtenstab ähnelte. Robert, der direkt neben Andreas lag, stöhnte leise auf, als Köhler das wächserne Gesicht seines toten Bruders Stefan anstrahlte. Eis und Frost glitzerten in dessen Haaren und Augenbrauen, der Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet und die toten Augen starrten trübe in Richtung der hohen Eiswand mit dem darin eingefrorenen Monstrum. Als sich Andreas umwandte, sah er, dass seine Freunde vor Entsetzen fast wie gelähmt waren. Er rüttelte Robert und Elke solange, bis diese ihm wieder Aufmerksamkeit zollten. »Ich schleiche mich von hinten an«, wisperte er und wandte sich nun auch an Miriam und Niklas, auf deren Gesichtern sich nackte Angst abzeichnete. »Ich versuche ihn von hinten anzugreifen und mit der Schippe niederzuschlagen. Wenn ihr mich hört, dann müsst ihr rauf und mir beistehen! Wir haben nur diesen einen Versuch, klar?« Seine Freunde nickten stumm.
Köhler starrte die aufrecht stehenden Leichen noch immer ungläubig an. »Ich fasse es nicht«, sprach er zu sich selbst. »Diese Ähnlichkeit … Egal.« Er packte den Hirtenstab und rüttelte daran. Doch die Finger der vier erstarrten Jugendlichen umschlossen ihn, so als wollten sie ihn selbst nach dem Tode nicht mehr hergeben. Andreas schlich von Erhebung zu Erhebung, um hinter das Plateau und so in den Rücken von Köhler zu gelangen, der sich noch immer an dem Stab abmühte. Da stieß Andreas auf den Körper eines Mannes mit frostbedeckter Soutane, der ihm den Weg versperrte. Der Tote lag auf dem Rücken. Seine Beine waren grotesk verdreht und die trüben Augen weit aufgerissen, während seine erstarrten und von Eiszapfen bedeckten Finger den Eindruck erweckten, sich in die Luft zu krallen. Andreas brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. Elend. Das musste der Bruder Strobels sein, der ebenfalls 1978 verschwunden war.
Irgendwo weiter hinten stöhnte Konrad auf, der offenbar wieder zu Bewusstsein kam. »Junge!«, brüllte Köhler in seine Richtung. »Steh auf und hilf mir!« Doch Konrad schluchzte nur.
Andreas robbte um den toten Priester herum und verharrte, da es vor ihm, unmittelbar hinter dem großen Gesteinssockel, steil abwärts in die Tiefe ging. Dort unten war ein leises Rauschen und Glucksen zu hören und er konnte vage einen unterirdischen Wasserlauf erkennen, auf dem vereinzelte Eisschollen trieben. Andreas sah zu dem Felsen mit ihrer Alter Egos auf und ahnte, wie Annas Leichnam in den Perchtensee gelangt war. Sie fehlte dort oben im Reigen ihrer Freunde. Doch an einer Stelle in der Gruppe über ihm klaffte eine Lücke, die deutlich machte, dass auch sie einst dort oben gestanden hatte. Ihr Leichnam musste über die Kante gestürzt und dann über den unterirdischen Wasserlauf bis nach Perchtal getrieben sein. Unmöglich war das auf natürliche Weise geschehen.
»Verdammte Scheiße, dann eben anders!« Köhler gab seine fruchtlosen Versuche auf, den vier Eisleichen den Stab zu entwinden und zückte seine Pistole. Entsetzt sah Andreas mit an, wie er die Mündung der Waffe auf die Handgelenke der Toten ausrichtete und den Abzug betätigte. Mehrfach hallten Schüsse in der Höhle auf und über ihm splitterten Knochen und gefrorenes Fleisch. Andreas wandte seinen Blick ab, denn der Anblick war zu entsetzlich. Köhler grunzte zufrieden und brach der letzten Leiche, die den Stab noch umklammerte, kurzerhand die Hand ab. Es handelte sich um Miriams einstigen Körper. Triumphierend hielt Köhler den Stab in die Höhe, an dem noch immer fünf oder sechs wachsbleiche Hände mit ausgefransten Gelenkstümpfen hingen. Andreas packte den Spaten, wartete ab, bis ihm Köhler endlich den Rücken zudrehte und bestieg den schlüpfrigen Steinsockel. Unter dem Blatt seiner Schippe kratzte es. Köhler wirbelte herum und sah ihn ungläubig an. »Du?!«
»Ja, ich!« Andreas schlug zu, kaum dass Köhler die Pistole auf ihn ausrichtete. Ein lautes Klirren hallte durch den eisigen Dom, als Schaufelblatt und Waffe aufeinander prallten. Die Pistole Köhlers
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