Weisser Schrecken
Krummstab vor der Brust dargestellt. Die andere Riesenstatue hielt ein schreiendes Kind in den Klauen und hatte den Schlund mit den langen Reißzähnen weit aufgerissen. Doch das allein war es nicht, was Andreas das Blut in den Adern schier gefrieren ließ. Denn zwischen den Statuen erhob sich eine gewaltige Wand, die den Eindruck erweckte, als sei dort ein Wasserfall innerhalb von Sekunden zu glitzerndem Eis erstarrt. Oder war das Salzgestein? Irgendwo in der Höhle war ein leises Plätschern zu hören. Doch Wasser? Andreas verschwendete keine weitere Überlegung daran. Denn die milchigtrübe Masse schimmerte von Innen heraus in einem kalten, bläulichen Licht, das ausreichte, die komplette Höhle zu beleuchten. In diesem Licht zeichnete sich dunkel und schwarz die Silhouette einer monströsen Gestalt ab, die darin eingeschlossen war. Mein Gott. Das Wesen war fast haushoch und obwohl die trübe Einfärbung des eisigen Kerkers den Blick auf seine Gestalt verbarg, glaubte Andreas in seinem Innern so etwas wie die Konturen von Tentakeln oder Strängen ausmachen zu können. Und das war nicht alles: In dieser Wand klaffte ein Riss! Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass das blaue Licht dort besonders intensiv erstrahlte. Als sickere es von dort in die Höhle, um sich mit all dem Eis und dem Schnee zu vermengen.
Hinter ihm japsten seine Freunde entsetzt auf. Elke und Miriam klammerten sich an ihm fest und Niklas schlotterte am ganzen Körper. Er erweckte den Eindruck, als würde er jeden Moment ohnmächtig zusammenbrechen. Robert hingegen glotzte die Wand einfach nur ungläubig an. »Scheiße!«, wisperte er immer wieder. »Heilige Scheiße!«
Andreas musste sich zwingen, seinen Blick von dem eingefrorenen Wesen abzuwenden. Längst hatten Schreie seine Aufmerksamkeit geweckt. Gute fünfzehn Meter unter ihnen, zwischen einem Wald gefrorener Stalakmiten entdeckte er Köhler. Der Mann war in dem bläulichen Zwielicht, das die Höhle ausfüllte, leicht zu erkennen, da er noch immer seine Schiebermütze trug. Hinter sich her schleifte er Konrad, der sich schreiend gegen den Griff des Mannes stemmte. Doch er konnte nicht verhindern, von Köhler in Richtung eines höher liegendes Plateaus am Rand der Höhle zugezogen zu werden. Auf diesem Plateau standen vier eigenartige menschliche Skulpturen, wie zu einem bizarren Reigen vereint. Ihre Arme reckten einen schlanken Gegenstand in die Höhe. Andreas kniff die Augen zusammen und stöhnte. Das da hinten waren nicht irgendwelche Skulpturen, das da hinten waren ihre Alter Egos. Die Leiber ihrer einstigen Geschwister erweckten auf die Ferne den Eindruck, mitten in der Bewegung eingefroren zu sein.
»Andy, siehst du das!«, schluchzte Elke. »Ja, ich sehe es«, keuchte Andreas, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
»Köhler will den Stab!«, durchbrach ausgerechnet Niklas den Bann, der auf ihnen allen lag. Mit klappernden Zähnen deutete er zu den Leichen der vier Jugendlichen hinüber. »Diesen … diesen Stab Perchtas. Seht ihr nicht, dass wir … das sie ihn in Händen halten? Wir … wir müssen Köhler daran hindern!«
Andreas nickte und versuchte, das monströse Etwas in der Höhlenwand auszublenden. »Los, hinterher. Wir müssen Köhler zuvorkommen!« Er zwang sich, sich endlich wieder in Bewegung zu setzen und die anderen folgten ihm unbeholfen, indem sie ebenso wie er selbst über eisige Flächen nach unten in die Höhle rutschten, über Steine kraxelten, die so kalt waren, dass ihre Handschuhe daran festklebten, um dann, ebenso wie Köhler zuvor, durch den Wald der gefrorenen Stalakmiten zu hasten.
»Bitte, lassen Sie mich!«, hallte Konrads panische Stimme in der Höhle auf. »Ich verspreche auch, niemandem etwas zu sagen. Bitte!« Die beiden standen inzwischen vor dem Plateau mit den darauf befindlichen Frostleichen. »Was ist, Junge? Du hattest doch vorhin noch so ein großes Maul?« Köhler lachte dreckig und packte den Jungen am Oberarm. »Glaubst du, ich hab dich ohne Grund mitgenommen? Leider brauche ich dich. Und jetzt halt deine Fresse, damit ich mir das hier ansehen kann.« Mit einem wuchtigen Faustschlag streckte er Konrad zu Boden, wo er bewusstlos liegen blieb.
Die Freunde duckten sich hinter einem mit Eis und Schnee bedeckten Felsen und sie konnten sehen, wie Köhler gereizt seine Schlaghand schüttelte, während er zu dem Steinsockel empor kletterte. Mit einer Taschenlampe leuchtete er die vier erstarrten Körper an und riss überrascht die
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