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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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Das dürfte doch Grund genug sein? Außerdem werden wir beide doch wohl nicht so blöd sein, vor dem Abendbrot nach Hause zurückzukehren, oder?«
    Miriam griff zögernd nach den Sachen und zog sich nun ebenfalls um. »Wenn je herauskommt, dass der Zettel von Andy stammt, dann können wir uns beerdigen lassen.«
    Elke zuckte mit den Achseln und schnaubte abfällig. »Wenn du es Vater nicht sagst«, antwortete sie patzig, »wie sollte er das je herausfinden?«
    Miriam legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Und wenn wir uns doch mit alledem versündigen? In der Bibel steht schließlich …«
    »Oh Mann, Miriam!« Elke funkelte ihre Schwester wütend an. »Wenn du jetzt auch noch damit anfängst, dann drehe ich durch. Ich kann diesen Quatsch nicht mehr hören.«
    Diesmal war es Miriam, die schmollte. Doch kurz darauf grinste sie. »Andererseits, nett ist er ja, dein Andy.«
    »He!« Elke warf einen Socken nach ihrer Schwester. »Wehe, du machst ihm schöne Augen.« Beide kicherten leise und beeilten sich mit dem Umziehen. Anschließend kehrten sie in betont reumütiger Pose ins Esszimmer zurück. Elke musste unwillkürlich daran denken, dass diese Masche auch bei den Jungs zog, abgesehen vielleicht von Robert, der sich immer total cool gab. Doch wenn sie Andy aus großen Kulleraugen ansah, dann überschlug er sich förmlich darin, ihr jeden Wunsch von den Lippen zu lesen. Und Niklas machte sogar ihre Schularbeiten, wenn sie nur leidend genug tat. Das war echt witzig. Ganz im Gegensatz zu dem, was sie heute erlebt hatten.
    Ihre Eltern saßen inzwischen am Tisch und blickten betreten drein. Ihre Mutter weinte gar schon wieder. Offenbar hatte Pfarrer Strobel ein ernstes Wort mit ihnen gesprochen. Der wandte sich nun wieder ihnen zu und lächelte. Abermals beschlich Elke ein unangenehmes Gefühl, nur dass sie diesmal begriff, warum sie den Pfarrer nicht mochte. Denn wenn er lächelte, erreichte dieses Lächeln seine Augen nicht.
    »Ah, ich sehe, ihr beiden seid fertig.« Strobel drehte sich zu ihren Eltern um und schlug einen Ton an, der keinen Widerspruch duldete. »Von nun an werde ich Ihre Töchter ein wenig unter meine Fittiche nehmen. Ich bin mir sicher, dass trifft Ihr Einverständnis.«
    Elkes Vater starrte unbewegt seine Frau an, die auf eine Weise schluchzte, dass Elke mulmig zumute wurde. »Natürlich, Hochwürden.«
    Irgendetwas war heute wirklich anders als sonst. Und das gefiel Elke gar nicht. Da entdeckte sie Andys geschwärzten Zettel am Boden. Sie tat so, als müsse sie ihre Schuhe schnüren, und nahm ihn an sich, bevor die Erwachsenen etwas davon mitbekamen.
    »Kommt meine Lieben.« Pfarrer Strobel legte die Hände auf die Schultern der beiden Mädchen und führte sie zur Haustür.
    Die Zwillinge griffen nach ihren blauen Jacken, Mützen, Schals und Handschuhen und begleiteten den Pfarrer in die von Schnee bedeckte Gasse vor dem elterlichen Haus. Sie war eng und verwinkelt; einstige Bauernkaten wechselten sich hier mit schiefen Häusern im Fachwerkstil ab. Allerorten hingen lange Eiszapfen von den Dächern und in manchen Fenstern waren weihnachtliche Rauscheengel und grüne Tannengestecke zu sehen. Die enge Brennergasse› in der die Bierbichlers lebten, war nicht einmal geteert, sondern noch immer mit Kopfsteinen gepflastert, nur dass diese unter der weißen Decke nicht sichtbar waren. Der Name des Straßenzugs verwies zugleich auf das hohe Alter der Ortschaft und nicht zuletzt auf die alten Familientraditionen, die in Perchtal gepflegt wurden. So lebte Elkes Familie von der Schnapsbrennerei. Ihr Vater verkaufte Perchtaler Spezialitäten wie Pfirsich-, Haselnuss- und Eierlikör, hinzu kamen Magenbitter, diverse Obstler und natürlich der berühmte Enzian. Erst vor wenigen Monaten waren die Wurzelgraber in die umliegende Bergwelt gezogen, denn ihr Vater besaß eine Sondergenehmigung zum Graben der Enzian wurzeln. Ein Nachbar kam ihnen entgegen, der vor Strobel den Hut zog.
    »Herr Pfarrer, darf ich Sie etwas fragen?« Elke sah mit scheelem Blick zu dem Gottesmann auf, während sie an der Seite ihrer Schwester durch den Schnee stapfte.
    »Aber natürlich, mein Engel.«
    »Wie kommt es, dass Sie uns zur Chorprobe abholen wollen? Eigentlich müsste die doch längst stattfinden? Was machen die anderen denn jetzt ohne Sie?«
    »Nun, mein Engel, in Wahrheit fällt der Chor heute aus.« Strobel blieb stehen und spähte den Weg zurück. Dabei zog er beiläufig ein paar Lederhandschuhe aus der Jackentasche.

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