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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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hielt, den sie vorhin vom Boden aufgeklaubt hatte. Schade, der erste Liebesbrief ihres Lebens war so gut wie zerstört. Sie faltete die verkohlten Überreste vorsichtig auseinander und starrte den Zettel überrascht an. Fast der komplette Schriftzug war unleserlich – bis auf einige wenige Worte, die sich hell vor dem dunklen Untergrund abzeichneten: Elke … Finde … die … Wahrheit … raus …
    Niklas saß konzentriert an seinem Arbeitstisch, rückte mit dem Handrücken die Brille zurecht und übertrug die Mathe-Hausaufgaben in seinem Schulheft sauber auf einen karierten Block. Er liebte karierte Zettel. Die sich kreuzenden Linien suggerierten Ordnung. Und er liebte Zahlen. Weil in Zahlen eine Harmonie steckte, die die wirkliche Welt nur in Ausnahmefällen bot. Aus diesen Gründen bemühte er sich auch, die Ziffern sauber zu übertragen. Elke sollte sie schließlich gut lesen können, wenn sie und Miriam die Hausaufgaben abschrieben. Mit Mathe hatten es die Zwillinge nämlich nicht so. Aber Niklas half ihnen gerne. Auch wenn er natürlich wusste, dass Elke die wahre Botschaft, die in seiner sorgfältigen Abschrift steckte, vermutlich nie verstehen würde.
    Manchmal nannten die Mädchen ihn The Brain, das Gehirn, und diese Anerkennung machte ihn ehrlich gesagt ziemlich stolz. Sie waren ganz anders als die meisten Jugendlichen in Perchtal, die ihn Fettsack oder Qualle nannten. Zumindest wenn Andy und Robert nicht in der Nähe waren.
    Niklas hielt unwillkürlich inne, als er an die Schmähungen dachte. Sie taten weh. Sehr weh sogar. Und sie regten ihn auf. Schon griff er nach dem großen Stück Mohnkuchen auf dem Teller neben sich. Sein Vater, der die Bäckerei im Ort betrieb, hatte den Kuchen gestern erst gebacken. Doch obwohl der Abverkauf am Wochenende üblicherweise besser lief als unter der Woche, war noch ein halbes Blech übrig geblieben. Bis eben.
    Niklas biss in den weichen Teig, und schon fielen dicke Krümel auf seinen Bauch, der ausladend über den Gürtel hing. Er sah es und ekelte sich vor sich selbst. Wie gern wäre er ein wenig mehr wie Andy, sportlich und gutaussehend. Doch Niklas musste immer Süßes essen, wenn er sich über etwas aufregte. Das war wie ein Zwang, den er einfach nicht unter Kontrolle bekam. Der Arzt hatte damals gemeint, dass das wohlmöglich mit seinem Stress in Zusammenhang stehe. Diabetes hatte er bei ihm nicht diagnostizieren können. Die Wahrheit hatte Niklas dem Arzt natürlich nicht anvertraut. Sein Vater wollte nicht, dass irgendwas davon nach außen drang. Immerhin, er schaffte es, das Stück Kuchen zurückzulegen. Vielleicht … vielleicht würde er seine Fresssucht eines Tages ja doch in den Griff bekommen?
    »Na, Spatz? Arbeitest du schön?« Niklas schreckte herum, als er die Stimme seiner Mutter hörte. Sie stand unmittelbar hinter ihm, hielt ein Tablett in der Hand und war wie so oft in ihren praktischen mausgrauen Hosenanzug gekleidet, der fast die gleiche Farbe wie ihre Dauerwelle hatte. Sie hatte die gleiche rundliche Statur wie ihr Sohn, doch im Gegensatz zu ihm war sie weit davon entfernt, fett zu sein. Liebevoll zwinkerte sie ihm zu, und ihre Zähne strahlten bei seinem Anblick um die Wette.
    »Ich hab dich gar nicht kommen hören«, sagte Niklas mit gepresster Stimme. Er begann zu schwitzen, sodass seine Brille an den Rändern beschlug. Hastig polierte er die Gläser; dabei hätte er seine Mutter am liebsten angeschrien, warum sie sich immer so anschleichen musste.
    »Ich wollte dich doch nicht stören, mein Liebling.« Sie setzte das Tablett auf dem Hocker vor dem großen Bücherregal ab und hob beiläufig einen Wälzer auf, der aufgeklappt auf dem Teppich lag. »Ah, nehmt ihr in der Schule die Nibelungensage durch?«
    Verwundert blickte Niklas auf den Schmöker in den Händen seiner Mutter und entdeckte auf den Seiten eine altertümliche Abbildung Hagen von Trojes, jenem Verräter, dem Siegfried einst zum Opfer gefallen war. Er hatte das Buch bis eben gar nicht bemerkt. »Nee, kannst du wieder zurückstellen. Das muss irgendwie heruntergefallen sein.« Seine Mutter stellte den Band zurück ins Regal neben all die vielen anderen Bücher und spähte hinüber zum Schreibtisch. »Mathe?«
    »Ja. Die Latein-Hausaufgaben habe ich gestern schon gemacht.« Niklas beäugte das viel zu große Stück Himbeerkuchen, das sie ihm mitgebracht hatte. Es roch köstlich und erinnerte ihn an den Sommer. Natürlich wusste seine Mutter, dass er Himbeerkuchen nicht widerstehen

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