Weißer Teufel
von der Schule werde ihn und Rhys abholen, so dass sie kein öffentliches Verkehrsmittel benutzen mussten. Sie erinnerte ihn daran, direkten Kontakt mit anderen so weit wie möglich zu vermeiden, bis die Untersuchungsergebnisse feststanden, keine Reisen zu unternehmen, mit der Klinik in Verbindung zu bleiben … die Liste der Instruktionen war endlos. Immer wieder sagte er: »Okay.« Dann ließ ihn die Schwester allein. Er zog sich an. Mit jedem Kleidungsstück gewann er ein wenig mehr Würde zurück. Wer hätte gedacht, dass ihm die Schuluniform einmal so ein gutes Gefühl geben würde? Er kam sich vor wie jemand, der sich für einen Maskenball verkleidete. Die Harrow-Uniform – was für eine freche Rüge an das weiße Krankenhausfähnchen! Bald verließ er in grauer Hose und blauem Jackett mit schwarzer Krawatte den Raum.
Zu seiner Rechten sah er Glastüren, hinter denen alles dunkel war. Daneben breite Fenster. Der Anblick weckte eine Erinnerung. Vorraum . Hatte Dr. Minos nicht diesesWort benutzt, um die Station für Tuberkulose-Patienten zu beschreiben?
Roddy, dachte er.
Auf dem Flur rührte sich nichts. Eine Schwester saß hinter einer gläsernen Trennwand und arbeitete an ihrem Computer. Schritte waren zu hören und wurden wieder leiser. Andrew ging zur ersten Glastür – sie ließ sich öffnen, und er betrat den Vorraum. Er hörte das Surren des Belüftungssystems. Dies wäre die Gelegenheit, es sich noch einmal anders zu überlegen. Nein. Er öffnete die zweite Tür. Ein Fernseher auf einem Gestell an der Wand, heruntergelassene Jalousien, ein weißer Schimmer.
»Hallo?«
Keine Antwort.
Er schob die Tür noch ein wenig weiter auf und streckte den Kopf ins Zimmer.
Das Bett war gemacht. Niemand da.
Er zog sich auf den Korridor zurück. In den wenigen Sekunden hatte sich nichts geändert. Andrew eilte zur nächsten Glastür. Sobald er einen Schritt hinein machte, wusste er, dass dieses Zimmer belegt war: Die Lamellen der Jalousie zum Vorzimmer waren schräg gestellt. Der Fernseher lief zwar nicht, aber es gab eine andere Lichtquelle im Krankenzimmer – eine Reihe von blauen Leuchten an der Decke. Ultraviolettes Licht, das die Mycobacteria abtötet . Andrew wagte sich hinein. Ein Patient lag im Bett. Der Besucherstuhl war leer.
»Hi … bist du das, Roddy?«
Die liegende Gestalt bewegte sich. Eine durchsichtige Sauerstoffmaske drehte sich zu dem Besucher.
Roddy setzte sich auf. »Was machst du hier?« Seine Stimme wurde durch die Maske gedämpft. Er hustete. Daswar kein Raucherhusten, kein Reizhusten, den Salzwasserdampf hervorgerufen hatte. Dieser Husten beanspruchte den gesamten Brustkorb, als wäre er mit nassen Schwämmen vollgestopft, auf die jemand mit einem Teppichklopfer einschlug. Andrew wich zurück. Roddy drückte die Sauerstoffmaske fester auf sein Gesicht, als könnte ihm das helfen.
»Die Ärzte glauben, dass du Tb hast – … weil du mit HIV infiziert seist«, sagte Andrew hastig. »Das stimmt doch nicht, oder? Du hast kein …«
Roddy zog ärgerlich die Stirn kraus. »Ich dachte, das hier ist eine Klinik. Aber es ist Sodom und Gomorrha! Sie wollen nur wissen, ob ich Sex mit meinen Freunden habe! Ich hab gesagt: Habt ihr keine medizinische Ausbildung? Ich bekomme keine Luft, und ihr zerbrecht euch den Kopf, ob ich jemanden an meinen Arsch lasse? Meine Lunge braucht Hilfe, nicht mein Hintern. Ich könnte auch Arzt sein, wenn man nur Fragen nach …«
Seine Tirade ging in einem Hustenanfall unter. Diesmal erkannte Andrew die Panik in Roddys Gesicht, als der Anfall nicht enden wollte. Irgendwann ließ er nach. Roddy keuchte und saugte gierig an der Sauerstoffmaske. Plötzlich erschien der dünne Schlauch erbärmlich unzureichend. Andrew war unschlüssig, ob er bleiben sollte. Andererseits brauchte er eine Antwort, eine Bestätigung für den Verdacht, der während seines Gesprächs mit Dr. Minos aufgekeimt war.
»Roddy«, sagte er. »Als es dich getroffen hat … als die Krankheit ausbrach … hast du da etwas gesehen? Irgendwas Komisches gefühlt? Ich meine nicht die Atembeklemmung. Sondern … hast du jemanden gesehen? Irgendetwas in deinem Zimmer gespürt?«
Roddy starrte ihn an.
»Rhys sagte, dass so etwas wie ein schwerer Nebel im Zimmer war, als er hereinkam«, setzte Andrew hinzu.
Stimmen auf dem Korridor. Sie kamen näher, verharrten vor der Tür.
Andrew gab seine behutsame Taktik auf. »Hast du einen Jungen mit weißen Haaren gesehen?«, zischte er.
Roddy
Weitere Kostenlose Bücher