Weißer Teufel
morgens im Haus von Dr. Kahn zu erwarten. Dreißig Stunden. Früher konnte Mr. Taylor nicht hier sein. Dann würden sie gemeinsam nach New York fliegen. Irgendwann drückte Andrew mit zittrigem Finger auf die rote Taste.
Es war zwei Uhr siebzehn. Die Stille im Haus dröhnte.
Er war kurz davor, Harrow zu verlassen.
Würde er Persephone wiedersehen? Erinnerungen bestürmten ihn an nächtliche Anrufe. Tausende SMS und gemailte Fotos, die Anlass zum Grübeln gaben (wer ist der Typ, der den Arm um dich legt?). Er hatte es vorausgesehen: eine Fernbeziehung. Eine internationale Fernbeziehung. Teuer und unbefriedigend, hatte eine kosmopolitische Klassenkameradin dazu gesagt. Und all das hing natürlich von Persephones Überleben ab. So oder so – er würde sie verlieren.
Er hätte am liebten losgeheult und wollte nur noch schlafen.
Das durfte er nicht. Er musste seine Arbeit beenden. Mit vor Müdigkeit tauben Armen und schweren Lidern nahm er sich wieder die Mary-Cameron-Akte vor undschrieb weiter – erst einen Buchstaben nach dem anderen, doch dann kam er in Fahrt.
Piers Fawkes schreckte aus dem Schlaf. Gespenster und Wölfe fielen in seinen Traum zurück: Kruzifixe, dunkle Canyons und Gefahr.
Und ein immergrüner Zweig.
Dieses Bild hatte sich eingebrannt. Tautropfen auf den Fichtennadeln. Zu viel, Father Peter, urteilte er.
Er erhob sich von dem Sofa, auf dem er eingeschlafen war. Er fühlte sich, als hätte er einen Kater. Das ist nur die Erschöpfung, sagte er sich. Ich bin nüchtern – Gott sei Dank.
Sein Telefon klingelte. Es war noch dunkel draußen. Blinzelnd warf er einen Blick auf die Uhr. Zehn nach fünf.
»Hallo?«, brummte er. Er lauschte. Er bat die weibliche Stimme, das noch einmal zu wiederholen. »Nein, nicht ich«, erwiderte er. »Aber ich werde die Eltern anrufen. Was ist passiert?« Wieder hörte er zu. Sein Magen krampfte sich zusammen. Ihm blieb nichts anderes als Bosheit. »Das sollte ihnen genügend Zeit geben, zum Hospital zu kommen. Gut. Danke.« Damit legte er auf.
Er ging zum Küchenfenster und zog den Vorhang auf. Nur ein schwacher Schimmer im Osten. Er hätte viel Geld hergegeben, um gerade jetzt die Sonne zu sehen und Vogelgezwitscher zu hören. Ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen lag auf der Küchentheke. Er trug ein weißes T-Shirt und die Hose vom Tag zuvor. Der Rücken tat ihm weh. Er steckte sich die letzte Zigarette aus dem Päckchen an und lehnte sich an die Theke.
»Verdammt«, sagte er laut.
Es war neunzehn nach fünf. Er würde bis sechs Uhrwarten, ehe er Roddy Sloughs Eltern anrief. Sie waren geschieden. Wen sollte er zuerst verständigen? Die Mutter war Trinkerin; ein redseliger Liz-Taylor-Typ in Pelz; sie würde hysterisch werden. Er beschloss, erst mit dem Vater zu sprechen – mit dem großgewachsenen ernsten Peter Slough –, dann konnte der sich mit der Mutter herumschlagen. Alles andere würde er Macrae überlassen.
Er ging zum Computer und öffnete den Mail-Account. Vierundachtzig Nachrichten seit gestern Abend – aufgeregte Anfragen.
Treffen die Gerüchte zu?
Epidemie in der Schule?
Harrow wird geschlossen?
Er öffnete nur die mit dem Vermerk »höchste Priorität«:
Kurzfristige, aber dringliche Versammlung des Essay Club am Dienstagabend um neunzehn Uhr.
Die Mail stammte von Dr. Kahn, die alle elf Mitglieder des Clubs zusammenrief – ohne Erklärung, dafür mit einem Betreff: Andrew Taylor, Abschlussklasse, The Lot (Fawkes), stand da. Die Wahrheit über den Lot-Geist.
Fawkes riss die Augen auf, als er den Titel des Essays las. Doch dann wurde ihm klar, warum sie ihn gewählt hatten: Es hatte keinen Sinn, mit irgendetwas hinter dem Berg zu halten; sie mussten nicht mehr vor dem Rektor katzbuckeln. Fawkes war bereits gekündigt. Andrew hatte man aus der Schule entfernt. Es war riskant, anzukündigen, dass Andrew plante, sich wieder aufs Schulgelände zu wagen. Aber vielleicht fiel es niemandem auf. Ronnie Pickles und der Rektor hatten nichts mit dem Essay Club zu tun. Fawkes registrierte, dass Dr. Kahn seinen Namen in Klammernhinter The Lot gesetzt hatte, nicht den von Macrae. Im Grunde sollte Macrae an der Zusammenkunft teilnehmen, um sich den Vortragenden, einen Lot-Bewohner, anzuhören und zu unterstützen. Aber Macrae stand nicht als Empfänger auf der Verteilerliste.
Gut. Macrae hätte Andrew Ärger machen und – wer weiß – Fawkes’ Teilnahme verhindern können.
Aber da stand ein anderer Name auf der Liste, der Fawkes’
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