Weißer Teufel
Tisch. Sie spähte ihm über die Schulter und las, was er bisher zustande gebracht hatte.
»Sehr gut«, befand sie.
»Danke. Nur noch zwanzig Seiten. Das dauert die ganze Nacht.«
»Viel Glück.«
Er drehte sich verzweifelt zu ihr um. »Gehen Sie schlafen?«
»Nächte durchzumachen ist was für junge Leute.«
»Ich kann das nicht allein!«
»Du hast alles, was du brauchst.«
Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Ich kann das nicht«, wiederholte er.
Dr. Kahn blieb hinter ihm stehen. Sie spürte die ungestüme Teenager-Energie, die in Wellen von ihm ausging. Gammastrahlen – nennt man so nicht die Energie, die tibetische Mönche ausstrahlen, wenn sie meditieren? Was war dann das, was sie jetzt fühlte? Ein Zeta -Strahl? Sie lächelte. Teenager. Überbordende Hormone, Zorn, Frustration, Konfusion. Er war wie eine Maus, die in einem Versuchslabor ständig mit dem Kopf gegen die Begrenzung eines Labyrinths stieß, obwohl der Ausgang ganz nah war. Er sieht ihn nicht, dachte sie.
Dr. Kahn fragte sich, ob sie ihm etwas von dieser Energie entziehen, ihn erden konnte. Sie berührte ihre Schüler selten. Oh, den Kleinen tätschelte sie manchmal den Kopf oder den Rücken, wenn sie besonders unwiderstehlich waren; aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die ständig andere umarmten. Sie war sich bewusst, dass ein halbwüchsiger Junge, insbesondere in einem Internat, ein launisches Wesen war, mit dem man keine Spielchen trieb. Launisch. Ja. Das ist der springende Punkt. Man muss ihm diese übersprudelnde Energie nehmen. Dr. Kahn streckte eine Hand aus und hielt sie unsicher hoch. Sie hatte einen Moment des Zweifels – sieh dir nur dieses fleckige, faltige Ding mit den kurzen Fingern und den unweiblichen Nägeln an; sie hatte ihre Hände noch nie besonders gemocht. Dann legte sie sie auf Andrews Schulter. Er drehte sich nicht um. Im Geiste sprach sie eine Beschwörung aus: Du kannst arbeiten, Andrew. Dies ist ein kleiner Segen, der dich unterstützen soll. Du kannst arbeiten, Andrew. Sie zog die Hand nicht zurück. Sie fühlte sich wärmer an. Pulsierte. Mit Zeta-Energie.
Sie bemerkte eine Veränderung in seinem Körper. Er beugte sich vor und tippte ein paar Worte und löschte siewieder. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und tat es dann doch nicht. Was? , fragte sie. Ach, nichts, murmelte er. Er tippte wieder, diesmal einen ganzen Satz. Mehr – einen Absatz.
Ja . Sie nahm behutsam die Hand von seiner Schulter – er merkte es nicht einmal. Es hat funktioniert. Sie staunte, als sie einen Stich verspürte. Hatte sie sich entschieden, Andrew Taylor zu mögen? Ja, schon vor einiger Zeit. Ihre Besprechungen in der Bibliothek waren nicht rein akademisch gewesen. Sie waren Freunde geworden. Und sie wünschte sich, sie könnte bei ihm bleiben; ihren Beitrag leisten und ihn vorantreiben. Sie wusste, wie man einen Essay verfasste. Aber sie diente ihrer Freundschaft am besten, wenn sie sich zurückzog und ihn die Arbeit allein machen ließ. Sie lächelte ein wenig betrübt – das Schreiben ging ihm jetzt flüssig von der Hand – und schlich aus dem Zimmer.
Andrew tippte. Er hatte einen Krampf in der Hand und rieb sie. Immer wieder sah er nach, wie viele Seiten er schon hatte. Dies war nicht etwas, was man einfach einem Lehrer abgeben musste. Es musste Sinn ergeben und verständlich für Zuhörer sein. Für den eigentlichen Zuhörer, wie Dr. Kahn deutlich gemacht hatte: John Harness. Einmal stockte er und geriet in Panik. Er hatte den roten Faden verloren! Aber er las noch einmal alles durch und erkannte die Logik. Der Textaufbau war folgerichtig. Andrew empfand Stolz. Er war sich selbst begegnet in dem Mäuselabyrinth – dem Andrew, der er vor einer Stunde gewesen war, als er entschieden hatte, diesen speziellen Gedankenstrang in den Essay aufzunehmen, und er … gefiel sich: Ihm gefiel die Entscheidung, die ein wacher Verstandgetroffen hatte. Aber ihm blieb nicht die Zeit, das auszukosten. Andrews Finger flogen über die Tastatur, während er den Gedanken weiterverfolgte.
Irgendwann klopfte jemand an die Haustür. Andrew schaute benommen auf und trottete zur Tür. Fawkes stand vor ihm. Andrew grunzte nur und kehrte zurück ins Esszimmer.
Fawkes folgte ihm und ließ einen Redeschwall ab. »Ich hab ihn gefunden, endlich. Father Peter«, sagte er, während sich Andrew wieder an den Laptop setzte. »Weißt du, wo er war? In Newcastle. Er hat sich ausbilden lassen – denk nur. Dort gibt es ein
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