Weißer Teufel
Blick auf sich zog.
Alan Vine.
Verdammt. Dr. Kahn hatte die Einladung an die üblichen Teilnehmer verschickt. Sie hätte Sir Alans E-Mail-Adresse herausnehmen sollen. Mit dieser Mail verriet sie der letzten Person, die davon Kenntnis haben sollte, wo sich Andrew aufhielt.
Fawkes kochte sich eine Kanne Kaffee. Böse Vorahnungen machten sich bemerkbar.
Natürlich hast du dieses Gefühl – du hast gerade die Nachricht erhalten, dass einer deiner Schüler – ehemaligen Schüler – im Sterben liegt.
Fawkes starrte auf das dunkle Fenster. Er fühlte … nichts. Trotzdem konnte er die allgegenwärtige Weisheit und Rhetorik, die sich in seinem Kopf abspulte wie ein Tickerstreifen, nicht ausschalten:
Tod, der echte Tod, inspiriert nicht. Er bewegt einen nicht dazu, Elegien anzustimmen; nicht sofort. Erst zieht er einen in Tatenlosigkeit und Verzweiflung.
Armer Roddy.
Er versuchte sich zurechtzulegen, was er Roddys Eltern sagen sollte. Aber etwas Hässliches, das er nicht verscheuchen konnte, nagte an ihm. Es wuchs, als würde ein schlechter Geruch in seine Wohnung strömen.
Oh.
Das hatte er schon einmal empfunden.
Adrenalin belebte Fawkes’ erschöpften Körper. Er fühlte dieselbe Präsenz, die ihm und Andrew Tage zuvor in seinem Arbeitszimmer solche Angst gemacht hatte. Er sah sich im Wohnzimmer um, suchte nach etwas – nach einer Spur dieser Präsenz. Aber er entdeckte nichts Bedrohliches. Er befahl seinem Verstand, die Kontrolle zu übernehmen, dieses Gefühl zu überwinden, als sein Blick darauf fiel. Beinahe hätte er es übersehen. Vor wenigen Wochen wäre der Anblick das Natürlichste von der Welt für ihn gewesen.
Neben dem Fernseher stand eine blaue Ginflasche. Zu zwei Dritteln voll. Dieselbe Flasche, die er vor einer Woche weggeworfen hatte. Damals hatte er diese Flasche zusammen mit allen anderen in einen doppellagigen Müllbeutel gesteckt und in die Tonne geworfen. Mittlerweile hatte die Müllabfuhr die Tonne sicher längst geleert.
Mit anderen Worten – die Flasche hatte in seinem Wohnzimmer nichts zu suchen.
Aber sie stand da und wartete geduldig auf ihn. Fawkes’ Herz pochte. Er war allein mit der Flasche. Er konnte machen, was er wollte. Kein Mensch sah ihn. Es war fünf Uhr morgens. Und ihm bliebe genügend Zeit, um wieder nüchtern zu werden. Außerdem war er aus dem Dienst entlassen. Er hatte keinerlei Verpflichtungen mehr. Er konnte seinen Rausch ausschlafen und dennoch rechtzeitig zum Treffen des Essay Club kommen. Piers Fawkes spürte eine Präsenz. Sie schwebte, neigte sich zu ihm und beobachtete ihn mit teuflischer Schadenfreude.
Fawkes durchquerte das Zimmer und packte die Flasche am Hals.
25
Essay Club, Teil II
Bei Einbruch der Nacht war der Hügel in Aufruhr.
Der Tag war nutzlos gewesen. Der Unterricht hatte stattgefunden, das schon. Aber alles verlief wie nach Theo Ryders Tod. Die Jungs waren mit Gerüchten und unbeantworteten Fragen beschäftigt. Nur dieses Mal war alles noch schlimmer. Die Lehrer konnten den Betrieb kaum aufrechterhalten. Jede Neuigkeit, jede erfundene Klatschgeschichte gab Anlass, den Unterricht zu unterbrechen und darüber zu diskutieren, was die Schüler erfahren hatten – über das Gerücht, dass im Lot Tuberkulose ausgebrochen sei, dass die Schule geschlossen werden solle, dass vier Schüler im Krankenhaus waren und bald sterben würden wie Theo Ryder. Wenn jemand im Klassenzimmer nieste, erntete er scharfe Blicke; hustete einer, wurde er hinausgeschickt. (Du gehst besser in dein Zimmer, Seabrook. Matron soll nach dir sehen. Du klingst gar nicht gut.) Dr. Rogers Wartezimmer auf der Krankenstation war voll – die Schlange reichte bis auf die Treppe. Und das Schlimmste war, dass sich niemand die Mühe machte, die Gerüchte aus der Welt zu räumen. Das konnte selbstverständlich nur bedeuten, dass sie der Wahrheit entsprachen. Harrow wurde geschlossen.
Der Anruf, auf den Colin Jute wartete, ging um kurz vor drei in seinem Büro ein. Ein Arzt vom Royal Tredway Hospital meldete sich mit guten Nachrichten – zunächst. Die Tests der Jungs waren negativ. Rhys Davies und AndrewTaylor waren frei vom Mycobacterium tuberculosis. Der Rektor stand erleichtert auf, bereit, aufzulegen und zur Tat zu schreiten; zu verkünden, dass die Krise abgewendet war, dass keine Gefahr für andere Schüler mehr bestand und die Schule nicht dichtgemacht werden musste. Er fühlte sich wie ein Sieger.
Der Arzt jedoch schien von einem Zettel mit Notizen
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