Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weißer Teufel

Weißer Teufel

Titel: Weißer Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Evans
Vom Netzwerk:
Fuß mehr in die Vaughan gesetzt. So viele Erinnerungen an diesen ersten Tag waren ausgeblendet, nachdem er Theo, kalt und steif, auf dem Hügel gefunden hatte. Die Bibliothek war eines der alten Harrow-Gebäude, die, wie er vermutete, als Postkartenmotiv und Hintergrund für Klassenfotos herhalten mussten.
    Er stieß die schwere, geschnitzte Tür mit den großen Messingringen auf und betrat den langen Raum mit der hohen Decke. Ein Schüler saß am Informationspult und sortierte Bücher.
    Andrew ging auf ihn zu. »Ich bin auf der Suche nach Judith Kahn«, sagte er. »Dr. Kahn.«
    Der Junge riss die Augen auf und deutete wortlos an Andrew vorbei.
    Andrew drehte sich um.
    Judith Kahn stand hinter ihm. Dieselbe Dr. Kahn, die die Neulinge durch die Bibliothek geführt hatte. Ihr orangefarbener Haarschopf war mit grauen Fäden durchsetzt, der schwarze Hosenanzug wirkte wie ein Panzer. Ihr Blick war düster.
    »Du bist spät dran«, stellte sie fest. Dann fegte sie ohne Vorwarnung an ihm vorbei. Der Saal war mit großen, tiefroten, blauen und elfenbeinfarbenen Steinplatten ausgelegt. Sie glichen den Feldern auf einem riesigen Schachbrett. Andrew trabte ihr hinterher.
    »Mr. Fawkes hat mir nicht gesagt, dass er eine bestimmte Zeit mit Ihnen ausgemacht hat«, protestierte er.
    »Ich bin nicht dafür verantwortlich, was dir Mr. Fawkes gesagt hat oder nicht. Wir hier haben einen geregelten Tagesablauf. Wir richten uns nicht nach den Launen der poetischen Inspiration.« Dies rief sie so laut, dass ihre Stimme von der Decke widerhallte; und obschon sich Andrew bewusst war, dass sie sich in ihrer Bibliothek befand, schreckte er bei dem Lärm zurück.
    »Ich glaube nicht, dass er …«
    »Verteidige ihn nicht. Piers Fawkes ist kindisch wie alle Künstler. Sie begeistern sich für nichts und erschaffen ihr eigenes kleines Nichts, wenn es sonst keines gibt. Das ist keine Charaktereigenschaft für Historiker, Akademiker und eigentlich alle erwachsenen Menschen, die etwas im wirklichen Leben erreichen wollen. Und das ist mein Fach: das wirkliche Leben. Ich bin Archivarin. WissenschaftlicheBibliothekarin. Ich apportiere die Bücher nicht nur. Wenn Fawkes den literaturgeschichtlichen Spürhund spielen will, dann geht er mit der wichtigtuerischen Naivität eines Kindes, das sich mit den Schuhen des Vaters oder, besser noch, mit dem Hut und der Pfeife von Sherlock Holmes verkleidet hat. Er hat keine Ahnung, wie schwierig es ist, das zu finden, worum er gebeten hat. Und ich habe zu lange in dieser Bibliothek gearbeitet, um sofort aufzuspringen und Bücher zu wälzen, wenn Mr. Fawkes eine plötzliche Eingebung hat. Ich bin nicht das verdammte Google Books«, schrie sie, und ein halbes Dutzend Schüler hob die Köpfe. Als sie sahen, wer da an ihnen vorbeirauschte, steckten sie ihre Nasen wieder in die Bücher. »Dort hat er seinen Hinweis gefunden, hab ich recht?«
    Andrew schwieg. Sie kamen zu einer mit Schnitzereien verzierten Tür am Ende des Lesesaals. Dr. Kahn nahm einen Schlüsselring aus der Tasche und schloss sie auf. Dahinter führte eine dunkle Treppe nach unten. Der Geruch nach Staub, Leim und Stille schlug ihnen entgegen.
    »Wie spät ist es?«, wollte Dr. Kahn wissen.
    »Halb acht«, antwortete Andrew erstaunt.
    Sie streckte die Hand in die Dunkelheit. »Dreißig Minuten.« Er hörte das Klicken der Zeitschaltuhr, und Licht flammte auf. Gleich darauf ertönte das Ticken von Sekunden. »Licht schadet den Büchern«, erklärte sie. »Wir lassen es nur so lange brennen wie nötig. Rupert «, rief sie dem Jungen am Informationspult zu. »Ich bin in den Katakomben.«
    Rupert drehte sich zu ihnen und legte die Finger an die Stirn, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, aber es wirkte eher wie ein Salut.
    Andrew folgte Dr. Kahn die Treppe hinunter – eine erstaunlichmoderne Stahltreppe, die durch die Erschütterung ihrer Schritte leise summte – und fand sich in einem langgestreckten Raum mit niedriger Decke und gelben Lampen wieder. Er war durch Regale unterteilt, in denen Bücher und in Plastik verpackte Dokumentenboxen standen.
    »Hier links sind Briefe von OHs«, erläuterte Dr. Kahn im Vorbeigehen. Old Harrovians  – ehemalige Schüler, übersetzte Andrew für sich. »Eine ergiebige Abteilung. Winston Churchills Briefe an seinen Hausvater. Kurz nach Gallipoli. Sehr sentimental. Churchill hatte eine furchtbare Zeit in Harrow.« Sie tippte auf eine andere Box. »Hier ist die Handschrift von einem frühen Drama von Rattigan.

Weitere Kostenlose Bücher