Weißer Teufel
zu. »Komm.«
Andrew trottete hinter Fawkes die schmale Treppe hinauf. Er war nicht gerade scharf darauf, Fawkes’ private Räume zu sehen angesichts des Zustands in den Zimmern, in denen er Gäste empfing. Im oberen Stockwerk war es düster und stickig. Im Bad, dessen Tür offenstand, lag ein Handtuch auf dem Boden. Das Waschbecken sah irgendwie haarig aus, und eine offene Zahnpastatube lag auf dem Rand wie ein verwundeter Soldat auf dem Feld. Sie kamen am Schlafzimmer vorbei (ungemachtes Bett, schmutzigeUnterhose auf der Decke) und betraten das Arbeitszimmer – ein nur karg möblierter Raum mit heruntergelassenen Jalousien, der ziemlich unbewohnt wirkte. In einer Ecke lag ein Stapel von unterschiedlich dicken Schnellheftern. Fawkes kauerte sich vor sie, stand wieder auf und hielt Andrew einen dünnen Hefter hin. Er beobachtete aufmerksam die Reaktion des Jungen.
»Was ist das?«, wollte Andrew wissen.
»Das ist die Akte von John Harness«, erklärte Fawkes. Andrews Augen wurden groß. »Ich habe eine Akte über alle bedeutenderen Liebschaften Byrons angelegt.«
»Liebschaften?«, wiederholte Andrew verwirrt und nahm den Hefter entgegen. Er enthielt Fotokopien von Gedichten.
»Nicht von allen. Nur von den bedeutenderen. Er hatte Hunderte.« Fawkes beäugte den Stapel auf dem Boden und seufzte. »So was macht man, wenn man eine Schreibblockade hat. Recherchieren. Fakten sind der Weg zur Wahrheit.«
»Und warum haben Sie eine Akte über John Harness? Sie waren Schulfreunde, kein Liebespaar.«
»Ah, ihr naiven Amerikaner«, stöhnte Fawkes. »John Harness war Byrons Liebhaber. In Harrow«, präzisierte er, als er Andrews schockiertes Gesicht sah. »Zu ihren Zeiten war so etwas nichts Unübliches. Kleine Liebesaffären unter Jungs. Harness und Byron ›gingen miteinander‹. So hieß das damals. Byron war fasziniert, weil Harness wie er hinkte. Ein Unfall in der Kindheit. Letzten Endes heilte Harness’ Verletzung aber aus. Byron war sein Beschützer. Der ältere, robustere Junge setzte sich für den kleineren ein. Noch so eine Sache, in der Byron schwer zu fassen ist. Das Beschützerverhältnis verwandelt sich inRomantik. Sie schrieben sich leidenschaftliche, eifersüchtige Briefe. Auch das war nicht ungewöhnlich. Was allerdings bemerkenswert war, ist, dass sich das Ganze zu etwas anderem entwickelte. Sie studierten beide in Cambridge. Und es wurde eine Beziehung. Eine echte Beziehung. Die Gelehrten ignorierten das ein Jahrhundert lang und machten den homosexuellen Teil von Byrons Leben zum Tabu. Die meisten Beweise wurden weggewischt.« Fawkes tippte auf die Akte. »Aber Harness ist eindeutig da – in Gedichten und Briefen. Ein Gesicht, das einem von diesen Blättern entgegenblickt.«
Andrew hielt den Ordner, als wäre er aus Uran. »Harness ist der weißhaarige Junge«, sagte er.
»Wenn John Harness tatsächlich dein Geist ist«, fuhr Fawkes fort, »dann bist du in einer ausgesprochen heiklen Lage.«
Andrew gefiel das Wort Lage in diesem Zusammenhang gar nicht. Er sah Fawkes argwöhnisch an – kannte er Einzelheiten von seiner Begegnung mit dem Jungen in der Zisterne?
»Was meinen Sie damit?«, hakte er nach.
»Na ja … er ist Harness. Du bist Byron.«
»Ja, im Theaterstück …«
»Persephone ist die Ähnlichkeit sofort aufgefallen.« Fawkes lehnte sich an die Wand, verschränkte die Arme und betrachtete Andrew. »Verstehst du nicht?«
»Nein«, entgegnete Andrew eigensinnig.
»Vielleicht denkt der Geist, dass du Byron bist .« Fawkes’ Lippen kräuselten sich zu einem faszinierten Lächeln.
»Dass ich sein Geliebter bin?«, sagte Andrew absichtlich ungläubig.
Fawkes starrte ins Leere. »Vielleicht ist er deshalb zurückgekommen.Er hat dich gesehen. Oder gefühlt. Was auch immer. Er wollte mit dir in Kontakt treten. Glaubst du, dass er dir etwas erzählen kann? Über Byron? Gott, das ist verrückt, aber faszinierend – eine unfassbare Gelegenheit!« Fawkes lachte vor Aufregung. »Wir könnten eine Séance abhalten, um John Harness herbeizurufen. Hat er irgendetwas über Byrons Manfred gesagt?«
» Ich rufe ihn nicht herbei«, wehrte Andrew unwirsch ab. »Ich hab gesehen, wie er Theo umbrachte.«
Fawkes runzelte die Stirn. »Gut. Ich muss sagen, das hilft mir nicht, deine Sicht von Theos Tod zu übernehmen. John Harness ein Mörder? Der arme, schwule Junge mit dem verletzten Fuß? Das ist nicht meine Vorstellung von einem kaltblütigen Mörder.«
»Warum? Wie war Harness?«,
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