Weißer Teufel
wollte Andrew wissen.
»Er wurde immer wie ein Opfer behandelt. Du weißt schon: Byron spielte eine Zeitlang mit ihm, dann ließ er ihn fallen.« Fawkes zuckte mit den Schultern. »Außerdem gibt es keine Berichte über einen Mord. Allerdings ist Harness’ Leben nur spärlich dokumentiert.«
»Ich dachte, Sie glauben mir«, murrte Andrew.
»Ich glaube dir, dass du etwas beobachtet hast«, sagte Fawkes. »Aber nur weil du gesehen hast, wie John Harness Theo getötet hat, heißt das noch lange nicht, dass er wirklich der Mörder war. Der Rechtsmediziner hat die Todesursache bestimmt. Sarkoidose, oder wie das heißt. Möchtest du die Polizei anrufen? Willst du ihnen erzählen: ›Theodore Ryder wurde von einem Geist umgebracht! Name: John Harness. Wohnsitz: das Jenseits. Nein, das liegt nicht in Middlesex.‹«
Andrew verdrehte die Augen. »Das können wir nicht sagen.«
»Meine Rede«, gab Fawkes zurück.
Andrew überlegte. Plötzlich spürte er, wie sich etwas Schweres über ihn senkte, etwas Ungesundes, und er nahm ganz deutlich Unglück, Selbstzweifel und Wut wahr. Das alles war so greifbar, dass es seine Sinne infiltrierte wie ein scheußlicher Gestank; das mentale Äquivalent zu Verwesungsgeruch. Er wurde schläfrig und ängstlich zugleich. Die Luft im Raum war heiß und schal geworden und weckte den Wunsch, in diesem krank machenden Nebel zu schlafen. Andrew sah Fawkes an, der ihn mit großen Augen anstarrte.
»Spüren Sie etwas?« Das Sprechen fiel Andrew schwer. Seine Worte schienen in der dichten Atmosphäre abzusterben.
Fawkes nickte. »Wir müssen weg von hier«, erklärte er mit Mühe.
Andrew ließ die Harness-Akte fallen, bückte sich, um die Blätter aufzuheben. Dort standen Titel wie The Cornelian und An Thyrza . Andrew war wie hypnotisiert von diesen Überschriften und begann zu lesen.
»Komm.« Fawkes zupfte an seinem Ärmel. Andrew drückte die Kopien an seine Brust und ließ sich aus dem Zimmer auf den kleinen Flur zerren. Dort fiel das Atmen ein wenig leichter. Fawkes polterte die Treppe hinunter. Als er unten angelangt war, drehte er sich um und realisierte, dass Andrew noch oben stand. Verträumt, geistesabwesend.
»Andrew!«, brüllte er.
Andrew kam zu sich und folgte. Gemeinsam schauten sie hinauf zu dem Flur, dem sie gerade entflohen waren.
»Das war sehr merkwürdig«, stellte Fawkes fest.
Sie bewegten sich nicht vom Fleck, als ob sie daraufwarten würden, dass sie etwas einholte. Aber nichts kam auf sie zu.
»Ich … das hat mir nicht gefallen«, flüsterte der Hauslehrer vorsichtig. »Ist es das? Hast du das schon erlebt?«
Andrew nickte. »Ja.«
»Du bist tapferer, als ich dachte. Komm, setzen wir uns ins Wohnzimmer.«
Das taten sie. Beide nahmen auf dem Sofa Platz und blickten in die Ferne, bis sich ihre Sinne erholt hatten.
»Ich glaube kaum, dass ich dieses Zimmer in der nächsten Zeit betreten werde.« Fawkes schnitt eine Grimasse.
Andrew schwieg. Sie verharrten noch eine ganze Weile und starrten trübsinnig vor sich hin. Plötzlich fing Fawkes an, in einem satten Bariton zu singen
oder zu rezitieren; in einer Stimme, die Poesie kannte, wusste, welche Vokale man dehnen musste, um eine Melodie zu kreieren, und die dem Sarkasmus, der
in seinen normalen Gesprächen lauerte, widersprach:
»Lest man know not
That he on dry land loveliest liveth,
List how I, care-wretched, on ice-cold sea,
Weathered the winter.«
»Byron?«, fragte Andrew nach einer Pause.
»Pound«, korrigierte Fawkes.
»Was bedeutet das?«
»Ah, Kinder – wer will schon wissen, was Gedichte bedeuten ? Sie bedeuten nicht – sie drücken aus. Es sind Lieder. Wenn du mitfühlst, dann gibst du ihnen eine Bedeutung – hier oben.« Er tippte sich an die Stirn. »Dieses Gedicht trägt den Titel The Seafarer . Es geht um jemanden,der in See sticht in einer Zeit vor Navigationssystemen und Funkgeräten. Als man noch vollkommen und unwiderruflich allein auf hoher See war.«
Andrew dachte nach. »Wir sind allein?«
»In dieser Sache … ja.« Fawkes lächelte dünn. »Willkommen, Andrew Taylor, auf eiskalter See.«
Ein paar Minuten später machte Fawkes die Tür hinter Andrew zu. Sein erster Gedanke galt den oberen Räumen. Die Wolke schien sich aus seiner Wohnung verzogen zu haben. Sollte er hinaufgehen und nachsehen? Nein, danke!, lautete die prompte Antwort. Fawkes ging rauchend in seinem Wohnzimmer auf und ab und spähte immer wieder verstohlen zur Treppe. Wie sollte er es nachts allein
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