Weißes Gift im Nachtexpreß
Knochenschädel stülpte. Kapuze stand ihm nicht. Und er
war eitel trotz allem.
Mehmet Kozluk stand still und starrte
die Gleise entlang, wo — außerhalb des Sack-Bahnhofs — Signalmasten in die
Dämmerung ragten, Gleise zusammenliefen, Güterhallen das Gelände des Bahnhofs
begrenzten, vom Rangierstellwerk die erleuchteten Lichter her blinkten.
Aber der Nachtexpreß verspätete sich.
Eine Lautsprecher-Durchsage — kräch...
knerr...
pleeenggg... rrrrhhh... hatte das vor
einer Viertelstunde angekündigt und noch nicht widerrufen.
Schreyle lief auf und ab. Er hatte
schon die vierte Zigarette gepafft.
Wieder eine Durchsage.
Der D 1410... über Istanbul...
Na also, endlich!
Schreyle ging zum
Gleisende .
Ein Prellbock schloß dort die Schienen
ab. Dahinter war Bahnsteig-Vorfeld mit Buden für Obst, Imbiß, Schnaps,
Zeitungen, Souvenirs, Blumen. An der Stirnseite der Bahnhofshalle reihten sich
Restaurants und Kneipen.
Mehmet blieb, wo er war.
Jeder konnte so eine Hälfte des Zuges überblicken.
Das sollte verhindern, daß Attila Alico, der Rauschgift-Kurier, an ihnen
vorbeilief. Denn er war zwar ein geschickter Schmuggler, aber rettungslos
kurzsichtig. Ab ein Meter Entfernung sahen alle Menschen für ihn gleich aus.
Nicht auszudenken, wenn er sein
Heroin-Paket einem Fremden überreichte!
Der Nachtexpreß hielt mit viel Getöse.
Türen wurden aufgestoßen. Mehmets Landsleute ergossen sich scharen- und
traubenweise auf den Bahnsteig. Koffer, Kisten und Kartons wurden
herausgereicht durch Türen und Fenster. Sah aus wie moderne Völkerwanderung.
Mehmet spähte.
Schreyle spähte.
Beide hatten den Blick stark gesenkt,
den Attila Alico maß nur 154 cm — mit Absätzen.
Wo war er, zum Teufel?
Mehmet wurde nervös, sein Schnauzbart
zitterte.
Schreyle steckte sich aus Versehen zwei
Zigaretten gleichzeitig an — ohne die Ankommenden aus dem Auge zu lassen.
Weil er nichts verschwendete, rauchte
er auch beide — in jedem Mundwinkel eine.
Wo war Attila Alico?
Die Türkenflut wogte zum
Bahnsteig-Vorfeld, müde Gesichter, deren Gedanken noch in der Heimat waren.
Dann schleppte sich auch der letzte, gepäck-beladen, zur Halle.
Mehmet stampfte zu Schreyle.
„Ich habe ihn nicht gesehen.“
„Bei mir ist er nicht vorbeigekommen.“
Mehmet lutschte an seinen Bartspitzen.
„Weshalb nicht?“
„Mann, du kannst fragen.“
„Meinst du, sie haben ihn... erwischt?“
„Die Grenzkontrollen werden immer
schärfer, die Nasen der Drogen-Hunde auch.“
„Allah kahretsin (Gott verdamm mich )!“
„Was?“
„Ich sagte: um Himmels willen.“
Schreyle grinste tückisch, während er
sich eine frische Zigarette anzündete.
„Was wohl der Boss dazu meint.“
„Nämlich?“
„Vielleicht, daß wir die Sendung für
uns abgezweigt haben.“ Mehmets Breitgesicht wurde starr. „Würdest du das
machen?“
„Weiß nicht. Habe mich noch nicht
gefragt.“
„Er bezahlt uns recht gut.“
„Na ja. Es ist zwar seine Idee, in den neuen
Bundesländern einen Drogenring aufzubauen. Aber — an die 54 Mitmacher glaube
ich noch nicht. Wer weiß, welche Luschen da rumhängen. Und ich bin mir auch
nicht sicher, ob er — Landers — der richtige Mann ist als Boss.“
„Ich denke, der ist schon lange im
Geschäft.“
„So was gab’s doch gar nicht in der
alten DDR. Daß er krumme Dinger gedreht hat, davon bin ich überzeugt. Aber es
muß was anderes gewesen sein. Drogen sind Neuland für ihn. Das merke ich.“
„Naja, wie auch immer, wir müssen ihn
anrufen.“
Sie sockten zu einer Telefonzelle.
Schreyle nahm den Hörer, Mehmet hielt
die Tür auf, damit er mithören konnte.
Landers meldete sich.
„Ich bin’s“, sagte Schreyle. „Irgendwas
läuft schief, Boss. Attila Alico war nicht im Zug. Wir...“
„Weiß ich, weiß ich“, fiel Landers ihm
ins Wort. „Er hat eben angerufen.“
„Angerufen? Aus Istanbul?“
„Aus Lerchenfelden, dem Grenzbahnhof.
Die Zöllner waren heute wie vom Hafer gestochen, haben alles durchgekämmt —
zwar ohne Drogen-Hunde, aber mit Paßkontrollen und ‘ner Liste mit gesuchten
Personen. Alico wird gesucht.“
„Na, prima. Weshalb denn?“
„Er sagt, er habe im Oktober letzten
Jahres illegal Gastarbeiter über die grüne Grenze geschmuggelt. Die wurden
geschnappt. Er konnte abhauen. Aber sie haben ihn verraten. Seitdem ist er zur
Fahndung ausgeschrieben. Ich habe das auch nicht gewußt. Verdamm mich! Auf
diesen Kerl ist kein Verlaß.“
„Immerhin hat er angerufen.
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