Weißes Gift im Nachtexpreß
— wie sie
sagen — nicht kriegen, werden sie Jagd machen auf Irene. Den Tod drohen sie ihr
an. Deshalb will ich ja jetzt abhauen. Ich bin nicht hier heute nacht.“
„Wo ist deine Schwester?“
„Sie hat mich angerufen — etwas später
— und auch zugegeben, daß sie das Rauschgift besitzt. Hat aber nicht gesagt, wo
sie steckt. Sie meint, ich würde nicht dichthalten.“
Tim musterte ihn. Sagte der Bursche die
Wahrheit? Es schien so.
„Leg los, Hansen: Mit wem ist deine
Schwester befreundet? Wo kann sie sich einquartieren?“
Bert hob die Achseln. „Ich weiß es
nicht. Ich weiß ja nicht mal, ob sie einen Macker hat. Mit mir redet sie nicht
darüber. Sie macht, was sie will; ich mache, was ich will. Damit hat sich’s.“
„Irgendein Name, eine Adresse wird dir
doch einfallen.“ Bert bemühte sich, nachzudenken, aber es kam nichts dabei
raus.
Tim sagte: „Daß du jetzt abtauchen
willst, kann ich verstehen. Ich hindere dich auch nicht. Aber spätestens morgen
werde ich der Polizei mitteilen, was du auf dem Kerbholz hast. Für ewig kannst
du dich nicht verstecken — also sei schlau! Du gewinnst ein paar Pluspunkte,
wenn du dich freiwillig stellst. Kapiert? Gehst ins Präsidium, wendest dich an
Kommissar Glockner und gestehst die Sache mit Otto Pawelke. Und den
Telefonterror. Gebongt?“
Bert nickte langsam. „Habe ich ‘ne
andere Wahl? Scheint wohl das beste zu sein.“
„Wohin verdrückst du dich?“
„Äh — die Bude von Pawelke und
Schrottalski ist leer. Ich war schon vorletzte Nacht dort.“
„An der Hochriegel-Straße.“ Tim nickte.
„Wer ist Schrottalski? Herbert?“
„Ja, Herbert, der Kampfbettler.“
„Dann hau ab! Moment! Ich brauche deine
Haus- und deinen Wohnungsschlüssel. Keine Sorge! Morgen kriegst du sie wieder.
Wir rühren auch nichts an. Aber um Mitternacht werden wir hier jemandem einen
heißen Empfang bereiten.“
21. Attila, der Kurz-Türke
Blaßgesicht Schreyle schlief am
liebsten bis 11 Uhr. Als freiberuflicher Rauschgift-Dealer konnte er sich das
leisten. Das, was er Arbeit nannte, fand abends statt oder nachts.
An diesem Sonntag erhob er sich schon
um 10 Uhr aus den zerknitterten Laken, die längst waschmaschinen-reif waren. So
früh auf — er fand das heldenhaft.
In der Naßzelle — sprich: Badezimmer —
hustete er erstmal minutenlang, bis er Tränen hatte in den Eisaugen und die
Bronchien brannten.
Jedem Kettenraucher geht das so am
Morgen. Trotzdem rauchen sie weiter.
Schreyle steckte sich auch gleich eine
Nikotinnudel an. Als er duschte, legte er sie auf den Rand der Kloschüssel.
Kein Frühstück. Aber er schob zwei Päckchen Glimmstengel in die Manteltasche
und verließ, knatschig-gelaunt, sein Apartment.
Es lag im achten und obersten Stock
eines runden Wohnturms, der vor drei Jahren am Rand der Innenstadt errichtet
wurde — gleich hinter dem Leipziger Platz — und seitdem immer wieder durch die
Presse gezerrt wird: als Beispiel städtebaulicher Verhunzung.
Das Gebäude sah auch wirklich schlimm
aus. Der Architekt hatte sich für eine Art Turm-von-Pisa entschieden,
äußerlich. Aber keine Bewilligung zur Schräglage erhalten. Nein, der Wohnturm
stand kerzengerade. Trotzdem paßte er nicht in dieses Stadtviertel, wo
historische Bauten den Stil bestimmen.
Mit dem Lift fuhr Schreyle in die
Tiefgarage.
Sie hatte drei Etagen.
Sein grauer Mercedes wartete im
obersten Parkdeck.
Zwielicht. Schlechte Luft. Schreyle
zündete sich eine neue Zigarette an.
Die Autoschlüssel. Er schloß auf und öffnete
die Tür.
Im selben Moment wurde ihm ein harter
Gegenstand gegen die linke Niere gepreßt.
„Keine Bewegung, du Schweinekerl!“
blökte eine Schrillstimme.
Schreyle erstarrte. Offensichtlich war
das eine Pistolenmündung, die ihn da berührte. Und er kannte die Stimme.
„Attila, laß die Witze!“
„Ich mache keine, Schreyle. Ich habe
dich durchschaut. Steig ein!“
„Spinnst du? Was ist los?“
„Einsteigen, hinterhältiger Kerl!“
Schreyle verstand die Welt nicht mehr.
Über die Schulter blickte er hinter sich. Niemand da. Ach so! Attila Alico, der
Heroin-Schmuggler aus Istanbul, war ja nur einen Kopf größer als ein
Gartenzwerg.
Schreyle senkte den Blick. Dort war der
Kurz-Türke — in Gürtelhöhe, denn Schreyle maß 188 cm. Attila Alico hielt eine
Pistole, die in seiner Mini-Faust wie eine Kanone aussah.
„Attila, was soll das?“
„Zum letztenmal: Steig ein! Sonst puste
ich dich um.“
Der hat den Verstand verloren,
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