Weißglut
in einen Wutausbruch steigerte, wenn sie ihn einmal nicht erfüllt bekam. Während ihre Mutter diese Tobsuchtsanfälle als unpassend für eine junge Dame betrachtete, fand Huff sie amüsant. Je zorniger Sayre wurde, desto lauter lachte er.
Für den unauffälligen und wohlerzogenen Danny interessierte er sich am wenigsten.
Schon als junges Mädchen hatte Sayre diese innerfamiliäre Dynamik gespürt, doch hatten ihr damals sowohl das Verständnis wie die Erfahrung gefehlt, um sie klar zu durchschauen. Inzwischen erkannte sie, wie qualvoll es für Danny gewesen sein musste, dass Huff ihn nie beachtet hatte, dass er immer der unbekannte, zweite Sohn geblieben war.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sich kaum etwas an dieser Dynamik geändert. Chris war der geliebte Sohn und prädestinierte Thronerbe, der in Huffs Augen einfach nichts falsch machen konnte. Sayre war der Dorn in Huffs Fleisch, die rebellische Tochter, die sich von ihm losgesagt hatte. Damit blieb für Danny nur die Rolle des gehorsamen Kindes, das alle ihm übertragenen Aufgaben erfüllte und nie Widerworte gab, auf das man sich immer verlassen konnte, aber das kaum je anerkannt wurde.
Hatte Danny sich umgebracht aus dem Gefühl heraus, von niemandem wahrgenommen zu werden?
Falls er sich umgebracht hatte.
Sie knipste eine halb verwelkte Rose von einem Gesteck und zwirbelte sie an ihren Lippen hin und her. Eine Träne rann über ihre Wange.
Wie ungerecht, dass ausgerechnet der Liebste und Harmloseste unter ihnen so früh und so brutal sterben musste. Und falls Wayne Scotts Intuition nicht trog, war er nicht freiwillig gestorben.
»Ms. Lynch?«
Sayre drehte sich um und sah drei Schritte entfernt eine junge Frau stehen.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, entschuldigte sich die Fremde sofort. »Ich dachte, Sie hätten mich gehört.«
Sayre schüttelte den Kopf. Schließlich hatte sie die Sprache wiedergefunden und sagte: »Ich war in Gedanken.«
»Ich möchte Sie nicht stören. Ich kann später wiederkommen. Eigentlich bin ich nur gekommen … bin ich nur gekommen, um ihm eine gute Nacht zu wünschen.« Die junge Frau war etwa so alt wie sie selbst, vielleicht sogar ein paar Jahre jünger, und sie gab sich alle Mühe, nicht zu weinen. Sayre erinnerte sich, sie bei der Beerdigungsfeier gesehen zu haben, hatte aber keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen.
»Ich bin Sayre Lynch.« Sie reichte ihr die Hand, und die junge Frau ergriff sie.
»Ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Sie bei der Feier gesehen. Jemand hat mich auf Sie aufmerksam gemacht, aber ich hatte Sie schon auf den Fotos wiedererkannt.«
»Die Fotos im Haus sind uralt. Ich habe mich verändert.«
»Schon, aber Ihre Haare sind genau wie damals. Und Danny hat mir vor kurzem einen Zeitungsartikel über Sie gezeigt. Er war sehr stolz auf das, was Sie geschafft haben.« Sie lachte, und Sayre war beeindruckt, wie melodisch ihr Lachen klang. »Als ich ihn darauf hinwies, wie schick und cool Sie seien, meinte Danny, dass das Äußere manchmal täusche und Sie in Wahrheit ein Satansbraten seien. Aber er sagte das ganz liebevoll.«
»Wie heißen Sie?«
»Entschuldigen Sie. Ich bin Jessica DeBlance. Ich bin … Ich war Dannys Freundin.«
»Bitte.« Sayre deutete auf eine Betonbank unter einem Baum in der Nähe des Grabes.
Gemeinsam spazierten sie hinüber. Jessica trug ein geschmackvoll geschnittenes Leinenkleid. Die hellen Haare fielen in weichen Wogen auf ihre Schultern. Sie war zierlich und auf mädchenhafte Art hübsch.
Die beiden Frauen setzten sich nebeneinander auf die Bank. Wie in einer stillen Übereinkunft schwiegen sie ein paar Sekunden lang und schauten auf das Grab. Jessica schniefte in ein Taschentuch. Ganz intuitiv legte Sayre den Arm über die schmalen Schultern der Frau. Unter ihrer Berührung begann Jessica bebend zu weinen.
Es gab Dutzende Fragen, die Sayre ihr stellen wollte, aber sie sagte nichts, bis Jessica zu weinen aufgehört hatte und sich mit belegter Stimme für ihre Tränen entschuldigte.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich bin froh, dass mein kleiner Bruder jemanden hatte, der ihn so gern gehabt hat, dass sie sogar vor einer Fremden um ihn weint. Offenbar waren Sie beide eng befreundet.«
»Ehrlich gesagt wollten wir heiraten.« Jessica streckte ihre linke Hand vor, und Sayre starrte sprachlos auf den runden Brillanten an dem schmalen Platinband.
»Der ist ja wunderschön.«
Und weil der schlicht wirkende Ring eine aufrichtige
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