Weißglut
natürlich war, bis er im Erdgeschoss ankam, Selma schon da, in einen Morgenmantel gehüllt, der viel zu dick und flauschig für die Jahreszeit war.
»Brauchen Sie etwas, Mr. Hoyle?«
»Ein bisschen Privatsphäre in meinem gottverdammten eigenen Haus, wenn es genehm ist. Schlafen Sie mit einem Ohr auf dem Boden?«
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich mir Sorgen um Sie mache.«
»Ich habe Ihnen heute schon tausendmal gesagt, dass es mir gut geht.«
»Es geht Ihnen überhaupt nicht gut, Sie lassen sich das nur nicht anmerken.«
»Können wir dieses Gespräch auf einen anderen Zeitpunkt verschieben? Ich bin in Unterhosen.«
»Die ich schon hundertmal eingesammelt und gewaschen habe. Glauben Sie vielleicht, dass ich in Ohnmacht falle, nur weil ich Sie darin sehe? Nebenbei, es ist wirklich kein schöner Anblick.«
»Gehen Sie wieder ins Bett, bevor ich Sie feure.«
Mit der Arroganz einer Primaballerina drehte sie eine Pirouette auf ihren Frotteeschlappen und zog sich in die Dunkelheit auf der Rückseite des Hauses zurück.
Huff hatte lange hellwach und grübelnd im Bett gelegen. Allerdings schaltete sein Gehirn nicht einmal im Schlaf völlig ab. Genau wie die Schmelzöfen in der Gießerei brannte sein Verstand nachts genauso heiß wie am Tag. Einige seiner kniffligsten Probleme hatte er im Schlaf gelöst. Häufig ging er mit einem Dilemma ins Bett und wachte am nächsten Morgen mit einer Lösung auf, die sein aktives Unterbewusstsein in allen Einzelheiten ausgearbeitet hatte.
Heute jedoch waren die Probleme, die ihn beschäftigten, so verstörend, dass er kein Auge zugemacht hatte. Jedes Mal, wenn er die Lider schloss, sah er Dannys frisches Grab vor sich. Selbst unter einem Berg von Blumen war ein Grab nichts als ein Loch in der Erde, und das hatte nun überhaupt nichts Würdevolles an sich.
Die Wände seines Schlafzimmers schienen ihn einzuengen, so wie die Erde oder das Satinpolster im Sarg Danny einengen musste. Huff hatte noch nie an Klaustrophobie gelitten, und schon gar nicht in seinem eigenen Haus. Obwohl die Düsen der Klimaanlage direkt auf sein Bett gerichtet waren, klebten die Laken schweißnass an seinen Beinen, sodass er sie nicht einmal durch heftiges Strampeln abschütteln konnte.
Und zu guter Letzt plagte ihn ein höllisches Sodbrennen. Darum hatte er beschlossen, aufzustehen und nach draußen zu gehen, statt sich bis zum Morgengrauen leidend im Bett zu wälzen. Vielleicht würde ihn der Friede der ländlichen Nacht so weit beruhigen, dass er Schlaf fände.
Er zog die Haustür auf. Das Haus hatte keine Alarmanlage, und die Türen waren so gut wie nie abgesperrt. Wer würde schon wagen, Huff Hoyle zu bestehlen? Der Dieb müsste entweder sagenhaft mutig oder schlicht verrückt sein.
Huff konnte die Araber nicht ausstehen – genauso wenig wie Juden, Latinos, Schwarze, Asiaten und alle anderen Volksgruppen außer seiner eigenen –, aber er bewunderte die islamischen Staaten für die schnelle und kompromisslose Art, mit der sie für Gerechtigkeit sorgten. Wenn man jemanden beim Stehlen erwischte, konnte man ihm die Hand abhacken und ihn erst danach dem unfähigen Rechtssystem übergeben, das heutzutage weniger dazu da war, den Übeltäter zu bestrafen, als die gottverfluchten Bürgerrechte zu garantieren.
Wenn er nur an diesen erbärmlichen Zustand dachte, verschlimmerte sich sein Sodbrennen. Er stieß säuerlich auf.
Huff ließ sich in seinen Lieblingsschaukelstuhl sinken und zündete sich eine Zigarette an. Zufrieden paffend blickte er auf jenen Abschnitt des Horizonts, der von den Lichtern der Gießerei erhellt wurde. Die Schlote hatten die Stadt mit einem dünnen Wolkenschleier zugedeckt. Selbst wenn Huff sich im Moment ausruhte, arbeitete die Fabrik weiter.
Im Sommer liefen die Ventilatoren auf dem Balkon rund um die Uhr, weil sich sonst, wie heute Nacht, kein Lufthauch geregt hätte. Huff lehnte sich zurück und genoss die Liebkosung der weichen Brise auf seiner kalten, verschwitzten Haut. Mit geschlossenen Augen dachte er daran, wie er zum ersten Mal in seinem Leben einen Deckenventilator gesehen hatte. Als wäre es gestern gewesen.
Er hatte mit seinem Daddy, der auf der Suche nach Arbeit war, einen Drugstore betreten. Der Besitzer trug eine Fliege und breite Hosenträger. Den Hut in der Hand und den Kopf demütig gesenkt, hatte Huffs Daddy angeboten, den geölten Staubwedel über den Hartholzboden im Laden zu schieben, den Müll in den großen Kisten im Hof zu verbrennen oder
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