Weißglut
verheirateten Frau. Danny war damit nicht einverstanden. Aber danach zu schließen, was er mir über Ihren Bruder erzählt hat, war ein Ehebruch für Chris nichts Besonderes. Von ihren moralischen Grundsätzen her waren die beiden Brüder grundverschieden. Etwas sagt mir …«
Als sie verstummte, wandte Sayre sich vom Fenster ab und sah sie wieder an. »Etwas sagt Ihnen was?«
»Es ist nur so ein Gefühl. Ich weiß nichts Bestimmtes.« Sayre setzte sich wieder auf ihren Stuhl und beugte sich zu der jungen Frau vor. »Sie kannten Danny besser als jeder andere Mensch. Weit besser, als ihn selbst seine nächsten Verwandten kannten. Wenn Sie bei irgendwas ein komisches Gefühl haben, vertraue ich Ihrem Instinkt.«
»Es gab da etwas, was Danny zu schaffen machte …«
»Und Sie glauben, es könnte mit Chris zu tun haben?«
»Nicht unbedingt. Die beiden hatten nicht viel miteinander zu tun.«
»Sie lebten unter einem Dach.«
»Sie hatten dieselbe Anschrift, aber sie waren so gut wie nie zusammen zu Hause. Und wenn, dann nur in der Gesellschaft von Huff und Beck Merchant. Natürlich sahen sie sich manchmal in der Arbeit, aber sie hatten verschiedene Aufgabenbereiche und waren ausschließlich Huff und nicht einander verantwortlich.
Sie verkehrten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen, vor allem seit Danny sich in unserer Kirche engagierte.« Sie atmete durch. »Und ich glaube, das war die Quelle dessen, was Danny so auf der Seele lag. Er hatte ein spirituelles Problem.«
»Und zwar?«
»Ich wünschte, ich wüsste es, vor allem, wenn es ihn das Leben gekostet haben sollte. Ich fand es schrecklich, mit anzusehen, wie er sich mit einem so schweren moralischen Problem quälte, und drängte ihn immer wieder, mit mir oder unserem Priester oder einem anderen Vertrauten darüber zu sprechen. Aber er wollte nicht. Stattdessen sagte er nur, dass er nicht der Christ sein könne, der er gern sein sollte oder wollte.«
»Sein Gewissen quälte ihn.«
Jessica nickte. »Ich sagte ihm, es gäbe keine Sünde und keine Verfehlung, die Gott nicht verziehe. Er machte sich darüber lustig und meinte nur, dass Gott vielleicht die Hoyles noch nicht kennen gelernt hätte.«
»Und soweit Sie wissen, hat er das, was ihn so belastete, nie überwinden können?« Sayre hoffte inständig, dass Danny, nachdem sie ihn so barsch abgewiesen hatte, anderswo ein offenes Ohr gefunden, irgendwo anders Rat gefunden hätte. Aber Jessica zerstörte ihre verzweifelte Hoffnung mit einem traurigen Kopfschütteln.
»Ich glaube nicht, dass er es überwinden konnte. Es ist mir unerträglich, dass er starb, ohne seinen Frieden gefunden zu haben.«
»Vielleicht hat er zuletzt doch noch Frieden gefunden«, meinte Sayre in der vergeblichen Hoffnung, dass es so gewesen sein könnte.
Jessica lächelte Sayre an. »Danke, dass Sie das sagen, aber das glaube ich nicht. Je länger wir über eine Ehe und unsere gemeinsame Zukunft sprachen, desto mehr schien ihn dieses Problem zu belasten. Es wäre zwar nur geraten, aber …«
»Bitte raten Sie.«
»Na ja, er zerbrach sich immerzu den Kopf über die Arbeitsbedingungen in der Gießerei. Er war nicht eben stolz darauf, dass sein Unternehmen ständig gegen zahllose Sicherheitsvorschriften verstieß und so. Und doch stellte er Menschen ein, die dort arbeiten sollten. Er wies ihnen Tätigkeiten zu, die er als höchst gefährlich erkannte, und schickte sie nach einer knappen Einweisung an die Arbeit. Vielleicht konnte er nicht länger damit leben.«
Die Dame von der Büchertheke klopfte dezent an die Tür und sagte Jessica, nachdem sie sich höflich für die Unterbrechung entschuldigt hatte, dass die Kindergartenkinder zur Vorlesestunde gekommen seien. »Da draußen fragen zwanzig kleine Herzchen nach Tante Jessica«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie lange wir sie noch bändigen können.«
Als sie aus dem Büro kamen, bat Sayre Jessica, ihr zu helfen, die Wahrheit über Dannys Tod herauszufinden.
»Ich werde alles tun, um Sie zu unterstützen«, sagte Jessica. »Was brauchen Sie denn?«
»Kennen Sie jemanden, der am Gericht arbeitet?«
Die Stimmung war so trübselig, dunkel und bedrückend wie die Werkhalle selbst.
Das fiel Beck sofort auf, als er den Weg zu dem Röhrenförderband einschlug, an dem es in der Nacht zu dem schrecklichen Unfall gekommen war. Jeder Mann tat seine Arbeit, aber mit bemerkenswert wenig Begeisterung und völligem Schweigen. Keiner sah ihm in die Augen, dafür spürte er umso
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